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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Marthas Armen unsichtbar werden. Am nächsten Morgen flüsterte Martha: Heinerle, mein Heinerle, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ihm fiel das Kinderlied ein und er sang ihr leise ins Ohr: Marthale, du musst mir was Schönes jetzt kaufen. Und sie: Heinerle, Heinerle, hob kei Geld, Marthale, ich möcht jetzt zum Kasperle laufen. Sie wiegte ihn wie ein Kind: Heinerle, Heinerle, hob kei Geld. Martha, i möchte jetzt a Zuckerli schlecken, Heinerle, Heinerle, hob kei Geld. Wenn i aber Geld tu haben, soll der Heiner alles haben. Zuckerl, Kasperl, Ringelspiel, gar nix ist mir dann zu viel. Für mein Buberl Heiner du, tut die Martha alles, du. Heinerle, sang sie, i wart auf dich und Heiner sang: Marthale, ich liebe dich. Herzele, schluchzte er, mein allerliebstes Herzele …
    Um sechs Uhr standen sie auf, frühstückten mit seiner Mutter in der Küche. Brot ohne Butter, rote Hagebuttenmarmelade und Kaffee. Das Stillleben an der Wand ekelte ihn nicht mehr, es machte ihm Angst. Der tote Fasan mit den gebrochenen Augen. Die steifen, gespreizten Krallen. Die nackte Schnecke. Tod und Verwesung und er wurde zweiundzwanzig Jahre alt. Die Gendarmen verbeugten sich vor seiner Mutter. Danke, gnädige Frau. Sie nahmen Heiner in die Mitte. Im Treppenhaus hörte er den Kuckuck rufen. Sieben Mal, dazwischen Marthas Schrei: Rotfront!
    Er dachte an Flucht aber er saß in der Falle. Sie hätten Martha geholt. Wäre er mit Martha geflohen, hätten sie seine Mutter verhaftet oder seine Schwestern. Oder seine Großmutter. Er ließ sich ohne Widerstand abführen, auch, weil die Gendarmen so dumm und so anständig waren. Er machte sich Mut, so schlimm wird es nicht werden, ein paar Ohrfeigen würde er überleben. Er glaubte sich selber nicht.
    Die Wiener Ordnungshüter lieferten ihn im Polizeigefangenenhaus ab. Sie gaben ihm zum Abschied die Hand, man war ja fast befreundet nach einer Nacht im Ehebett. Servus, sagten sie, behüt di Gott. Ein deutscher Polizist sperrte Heiner in eine Einzelzelle ohne Licht und ohne Bett. Mittags bekam er einen Napf Suppe, abends zwei Scheiben Brot mit ranziger Wurst. Er schlief nicht. Er saß auf der Steinbank und versuchte, sich auf den Tag vorzubereiten. Sie würden ihn verhören. Nach Namen fragen und Decknamen. Die Genossen waren verhaftet worden – wenn nur einer geredet hatte, sah es nicht gut für ihn aus. Er war der Kopf der Gruppe gewesen, verantwortlich für Agitation und Propaganda. Er schwor bei seiner Liebe zu Martha: Ich verrate niemanden.
    Sie ließen ihn warten. Sie steigerten seine Angst. Mittags Suppe, abends Brot, kein Licht und kein Bett. Niemand sprach mit ihm. Nach vier Tagen wurde er von zwei Gestapoleuten abgeholt, zwei Männer mit viel zu sanften Stimmen. Ein kleiner Spaziergang, Herr Rosseck. Haben Sie Hunger? Haben Sie Durst? Möchten Sie rauchen? Sie führten ihn in eine gemütliche Wirtschaft. Er aß, so viel er konnte, rauchte ihre Zigaretten, trank Bier. Sie bezahlten die Rechnung. Wir wollen nur plaudern, sagten sie und mit ein bisschen Ehrlichkeit wäre er am nächsten Tag ein freier Mann. Er redete viel und sagte nichts. Sie brachten ihn ins Gefängnis und holten ihn am nächsten Morgen wieder ab. Heiner aß Knödel mit Speck, bestellte eine doppelte Portion Blaukraut, trank, rauchte und überhörte alle Fragen nach Personen und Adressen. Am dritten Tag führten sie ihn an der Wirtschaft vorbei zum Luxushotel Metropol am Morzinplatz, das seit dem 12. März 1938 Sitz der Gestapoleitstelle war. Ganz Wien wusste, dass im Kellergewölbe das schlimmste Folterzentrum Österreichs eingerichtet worden war. Die Nazis führten akribisch Buch: von März bis Dezember zwanzigtausend Verhöre.
    Sie betraten das Hotel durch den Hintereingang. Sie führten ihn in ein kleines Büro. Setzen Sie sich, Herr Rosseck, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch mit viel zu sanfter Stimme, erzählen Sie uns einfach, was Sie wissen, dann sind sie frei. Er legte die rechte Hand auf eine dicke Akte. Du verrätst niemanden, deine Kontakte, mein Junge, sind uns bekannt. Als der Mann, der ihm gestern noch das Essen und das Bier bezahlt hatte, ›Du‹ zu ihm sagte, wusste er: Das war ein Du auf Leben und Tod. Der Mann, der bisher teilnahmslos an der Tür gelehnt hatte, hieb ihm die Faust ins Gesicht.
    Zwölf Tage ist er geschlagen worden. Sie holten ihn morgens, warfen ihn, wenn er die Besinnung verlor, in die Zelle, holten ihn wieder, schlugen ihn zusammen, Heiner schwieg. Sie haben ihm das Nasenbein

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