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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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gebrochen und den Kiefer eingetreten. Sie schlugen ihm die Zähne aus. Er verlor das Zeitgefühl. Er war ein blutiges Bündel. Sein Hass wuchs mit jeder Ohnmacht. Er hätte sich totschlagen lassen, keinen Namen bekamen sie von ihm. Sie fragten nach allen Genossen aber nicht nach Martha, die kannten sie nicht, lieber Gott lass das so bleiben. Martha war der wichtigste Kontakt zwischen allen Gruppen der Wiener Bezirke.
    Heiner hat die Tortur überlebt, irgendwie. Er hat den Kopf leer gemacht und dort zwei Befehle verankert: Durchhalten. Mundhalten. Er befolgte den Rat eines Genossen: Wenn du gefoltert wirst, denk dich nach außen. Verschwinde aus dir. Flieg in den Himmel und erzähl dem schönsten Engel die schönste Geschichte aus deinem Leben.
    Im August 1942 wurde Heiner Rosseck vom Siebten Senat des Volksgerichtshofs in Wien wegen Vorbereitung des Hochverrats zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Als der Richter fragte: Wollen Sie noch etwas sagen, Herr Rosseck, nickte er. Und wenn ihr mich aufhängt, rief er, eure Macht ist nicht ewig! Sie sperrten ihn in die Dunkelzelle und er begann, bei Brot und Wasser zu träumen. Von Martha, von Zuhause, dem Kampf gegen die Nazis, er träumte von ihrer Niederlage in allen Ländern, er träumte vom Frieden. Abitur wollte er machen und studieren. Politik und Geschichte. Je suis Heiner. Er wollte Französisch lernen. Heiraten. Kinder haben. Er dachte sich Marthas Gesicht auf die Zellenwand und hörte ihre Stimme: Halt durch, Heinerle. Rotfront! Ich schwöre es, Herzele, drei heilige Eide bei unserer Liebe, ich halte durch, aber er hatte nicht mehr viel Kraft. In der Nacht, in der er erfuhr, dass die Gestapo ihn noch einmal holen wollte, sah er sich in der Zelle um. Sie taugte zu gar nichts. Kein Fensterkreuz, kein Türgriff. Nur glatte Wände und ein Eimer mit Kot und Urin.
    Die Gestapo, erfuhr er am Morgen, hatte kein Interesse an weiteren Verhören. Sie holten ihn für einen Satz: Du wartest auf den Schutzhaftbefehl und dann, mein Junge, ab geht die Post. Da wusste er Bescheid. Keine Entlassung, keine Martha, keine politische Arbeit. Schutzhaft. Haft zum Schutze des deutschen Volkes. Lager, dachte er. Aber wo? Dachau wahrscheinlich. Und wie lange? Sechs Monate? Ein Jahr? Am Abend des 9. Septembers 1942, einem Donnerstag, wurde er ›auf Transport‹ geschickt. Ein langer Zug mit vielen Waggons und 1860 Menschen.
    Am 11. September wurden sie durch das Tor getrieben. Männer in schwarzen Uniformen kläfften Befehle und schlugen mit Knüppeln auf die Neuen ein. Er hatte schnell begriffen, dass Schreien und Prügeln die Taktik ist, Menschen konfus zu machen. Er sagte sich: Reiß die Augen auf, kapier die Struktur. Auf der Lagerstraße standen Menschen in gestreiften Pyjamas stramm wie Soldaten beim Appell. Die Hände an die Hosennaht gepresst, die Augen aus Glas. Blicklos. Es müssen Tausende gewesen sein. Nebel kroch ins Lager, es nieselte, er konnte nicht viel erkennen – aber dass neben jeder Kolonne ein bizarrer Berg aus Gliedern lag, das hat er gesehen – und nicht geglaubt, was er sah. Nackte Menschen mit offenen Mündern, offenen Augen, zerschmetterten Köpfen. Auf der Brust standen große Nummern mit Kopierstift geschrieben. Drei Reihen elektrischer Stacheldraht zwischen dem Lager und der Welt, aus der er kam – was ist das für ein Ort, dachte er, an dem die Toten wie Abfallhaufen auf der Straße liegen. Dein Schatz fährt in ein leichtes Lager, hatten sie Martha gesagt, er wird es dort gut haben. Von 1860 Menschen aus seinem Transport haben vier überlebt.
    In der ersten Nacht ließ man sie viele Stunden nackt im Regen stehen. Es war kalt, der Regen wie Eis. Der Mann neben Heiner hieß Simon. Ein Jude aus Wien, Rechtsanwalt, Heiner kannte ihn. Ein starker Kerl. Nach zwei Stunden fiel er um. Herzinfarkt, der schönste Tod, der hier passieren konnte. Sie wurden mit stinkendem Petroleum desinfiziert, wie Schafe geschoren, in Häftlingskleidung gesteckt und fotografiert. Drei Aufnahmen, wie Passfotos. Profil: Ein eigenwillig vorgestrecktes, trotziges, schiefes Kinn, der Kopf schon kahl geschoren und unten links am Bildrand sein neuer Name: 63.387. Halbprofil mit Sträflingsmütze: Die krumme Nase, der zusammengepresste Mund, die hohe Stirn. Auf dem mittleren Foto starrt ein hageres Jungengesicht mit weit aufgerissenen Augen in die Kamera. Als er kein Häftling mehr war, besorgte er sich den Streifen aus dem Lager-Archiv und legte ihn, wenn er nach dem

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