Der Schrecken verliert sich vor Ort
hielt sich an den Händen. Palitzsch wusste, was er tun wollte, er hatte einen Plan und nur der Befehl eines Vorgesetzen hätte ihn zurückhalten können. Er schoss den Säugling in den Kopf, der, noch nicht tot, wie ein Fisch in den Armen der Mutter zappelte. Dann schoss Palitzsch auf das kleine Mädchen und die Eltern standen starr wie aus Eis. Plötzlich riss sich der Junge mit der Ballonmütze vom Vater los und rannte im Zickzack über den Hof in der verrückten Hoffnung, er könne sich retten. Palitzsch sah ihm zu, ließ ihn kreuz und quer laufen, er hatte Zeit, er wusste, dass es kein Entkommen gab. Als der Junge begriff, dass im Hof kein Versteck war, warf er sich auf die Knie und hob die gefalteten Hände. Sie sahen, dass er die Lippen bewegte, er flehte um sein Leben. Unter jeder Ballonmütze sieht Heiner seither das bittende Kindergesicht. Palitzsch ging ganz ruhig um den bittenden Jungen herum, gab ihm einen Tritt, stellte sich auf den Rücken des Kindes und schoss ihm in den Hinterkopf. Danach erschoss er die Frau, die noch immer das Baby in den Armen hielt, dann ihren Mann. Heiner wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Kostek hielt ihm den Mund zu. Sie starrten in den Hof. Palitzsch nahm das Kleinkalibergewehr von der Schulter, die Arbeit war getan. Er ging auf die Rapportführerstube zu, er war ein junger Mann, keine dreißig Jahre alt, SS-Hauptsturmführer. Er wischte sich die linke Hand am Hosenbein ab. Sein Leben lang hat Heiner diese Geste nicht vergessen. Als wische er sich einen Dreck von den Fingern und meinte nicht die Tat, sondern die Toten. Bevor Palitzsch in der Rapportführerstube verschwand, sah er kurz zu ihnen hoch. Eine klare Stirn, ein schmaler Mund. Sie warfen sich auf den Boden. Sie hatten sein Gesicht gesehen. Er sah satt aus, als hätte er gerade gut gegessen. Heiner und Kostek blieben eng umschlungen auf dem Dachboden liegen bis sie aufgehört hatten, zu zittern.
Auch Boger haben sie beobachtet. Friedrich Wilhelm Boger, kaufmännischer Angestellter, im Lager mutiert zum Spezialisten für Genickschüsse und verschärfte Verhöre. Erfinder der ›Boger-Schaukel‹, ein Reck, über das er die gefesselten Körper hängte, jeder nackte Zentimeter seiner Lust am Quälen ausgeliefert. Er nannte seine Erfindung ›meine kleine Sprechmaschine‹. Heiner hat Menschen vor der Vernehmung durch Boger gesehen und danach. Wenn sie die Tortur überlebten, mussten sie getragen werden. Sie sahen nicht mehr wie Menschen aus. Er hat ihre Schreie gehört. Heiner spuckte grünen Schleim. Es gab keinen Namen für diese Krankheit. Es war Verzweiflungskotzen. Panikkotzen. Schmerzkotzen, Mitleidskotzen. Wutkotzen. Er hielt sich die Ohren zu. Die Schreie der Opfer waren hoch und spitz, es zerriss ihm den Kopf. Wenn es im Himmel einen Herrgott gibt, muss er diese Schreie gehört haben.
Sie sahen Ernst Krankemann, den Jupp aus Köln, ein Gauner im zivilen Leben, einer der grausamsten Kapos im Lager. Niemand hatte ihm befohlen, Priester und Juden wie Ackergäule vor die große Straßenwalze zu spannen. Kapo Jupp war ein Koloss, ein ›Berg von Fleisch‹, das ›fette Schwein‹ hatte ein Lieblingsspiel. Er stellte sich auf die Deichsel der Walze als sei die ein römischer Kampfwagen und schlug mit einem langen Stock auf die Häftlinge ein: Vorwärts, ihr Wanzen, dalli, dalli. Er hielt die Walze nicht an, wenn ein eingespannter Häftling zusammenbrach.
Regelmäßig sahen sie Unterscharführer Bruno Schlage über den Hof gehen. Block 11 war sein Arbeitsplatz, er war Aufseher im Arrestblock. Er schloss die Zellen der zum Tode verurteilten Häftlinge auf, er war älter als die anderen Nazis, fast vierzig. Er bewegte sich weniger zackig, er ging mit einer Gemütlichkeit über den Hof, als inspiziere er seinen Gemüsegarten. Wenn das Wetter schön war, saß er auf den Stufen des Todesblocks und streckte der Sonne das Gesicht entgegen als wäre er im Urlaub. Zwanzigtausend Menschen sind vor der Schwarzen Wand erschossen worden, die Erde vor der Todeswand war noch in vier Meter Tiefe von Blut durchtränkt.
Heiner und Kostek riskierten ihr Leben. Sie hatten keine Uhr und keinen Kalender, kein Papier und keinen Stift. Sie notierten nicht den Monat, den Tag, die Uhrzeit dessen, was sie sahen und so waren sie im Sinne der Rechtsprechung schlechte Zeugen.
Aber im Halmaspiel war Heiner nicht zu schlagen.
Ich liebe nicht einen wie Dich, schrieb Lena, ich liebe Dich . Es gab einen vagen Zweifel, den sie schnell
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