Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
Vom Netzwerk:
Personalausweis gefragt wurde, dazu. Auch den Schutzhaftbefehl mit den eingestempelten Buchstaben RU trug er in der Brieftasche. Wer außer ihm konnte mit dem eigenen Todesurteil spazieren gehen? RU Rückkehr unerwünscht. Von der Bedeutung der Buchstaben ahnte er damals nichts.
    Sein erster Block war Nummer neun. Der lag neben Block zehn und dann kam Block elf. Eine lebensgefährliche Nachbarschaft, aber das wusste er damals noch nicht. Sie wurden ins erste Stockwerk getrieben. Zweitausend Menschen auf zwei Etagen. Der Kapo verteilte die Neuzugänge auf die doppelstöckigen Holzbetten. Er schrie: Eins, zwei, drei, vier – dieses Bett. Eins, zwei, drei, vier – dieses Bett. Achtzig Zentimeter für vier Männer, wie sollte das gehen? Der Kapo hob den Knüppel. Du und du und du und du. Zwei mit dem Kopf nach da, er zeigte auf das Fußende, zwei mit dem Kopf nach da, er zeigte auf das Kopfende. Kopf, Füße, Kopf, Füße. Sie sahen sich an, aber als der Kapo zuschlug, sprangen sie in die Betten. Sie lagen auf durchgelegenen, stinkenden, verpissten Strohsäcken ohne Stroh. Es war ungefähr vier Uhr morgens und allen war alles egal. Kein Gedanke, kein Traum, er schlief wie ein Toter – aber Knüppel sind Zauberstäbe, sie wecken Tote auf. Um fünf schrie der Kapo: Raus, dalli, dalli. Die Neuen standen vor den Betten und kratzten sich wie die Affen. Er sah seine Haut an. Die Arme, die Beine, die Brust, der Bauch, alles war feuerrot. Welch überschwängliche Begrüßung. Zehntausend Flohbisse in einer Stunde.
    Reiß die Augen auf, kapier die Struktur.

Als wäre die Strecke eine Einbahnstraße, fuhr immer nur Lena nach Wien, nie Heiner nach Frankfurt. Mein Schatz, schrieb er, in Dein Land zu kommen und durch Deine Stadt zu laufen, ist wie Geisterbahn fahren. Ich weiß nie, aus welcher Ecke mich der Teufel anspringt.
    Liebster Schatz, schrieb Lena, wir haben zwei Karten für die Geisterbahn gelöst, vergiss das nicht.
    Mein Schatz, schrieb Heiner, die Frage ist dumm, ich frage trotzdem: Wie kannst Du einen wie mich lieben?
    Lena ging mit der Sprache strenger um als Heiner. Ich liebe nicht einen wie Dich, ich liebe Dich .
    Sie schraubte den Füller zu. Sie wusste genau, warum sie sich in den Mann verliebt hatte, der vor ihren Augen zusammengesackt war. Es war nicht die Schwäche, die sie anzog, es war der Trotz und der Stolz in dem bleichen Gesicht und der Ton, der in seinem ›Servus‹ mitschwang, als er die Augen öffnete. Er hatte ihre Hilfe gebraucht, aber er lieferte sich ihr nicht aus. Sein ›Servus‹ war eine Mischung aus Dank und Spott. Er ließ sich helfen und sah zu wie ihm geholfen wurde. Er gab sich keine Mühe, die Neugier zu verbergen auf die Frau, die ihm ohne lange zu überlegen auf einen Stuhl setzte und ihn mit Schokolade fütterte. Sie liebte ihn, nur wusste sie nicht, ob sie einen Mann, der mit einem Senfglas als Grabbeigabe lebte, aushalten würde. Er würde seinen Sand auch anderen Menschen neben den Kuchenteller stellen und mit leichtem Wiener Schmäh in der Stimme fragen: Schauen’s, was mag das sein? Immer wieder das gleiche Ratespiel: Südsee? Zerriebene Muscheln? Kies? Kurze Pause, kleines Lächeln, sanfte Stimme: Es sind Knöchelchen … Wie oft kann man das ertragen?
    Er kochte nicht gerne, das störte sie nicht, dafür deckte er mit Hingabe den Tisch, als sei auch die kleinste Mahlzeit ein Fest. Ums Geschirrspülen riss er sich, im heißen Wasser wurden seine kühlen Hände warm – aber wie er aß! Fleisch, Brot, Eier, Gemüse – aus allem, was er in den Mund schob, machte er einen matschigen Brei. Jede Faser auswertend, auskostend, auswringend, auslutschend bis der Brei ein trockener Ball war, den er mit der Zunge in kleine Portionen spaltete, bevor er ihn schluckte. Er aß gegen den großen, alten Hunger an, der ihn nie verließ. Sie wusste nicht, ob sie sich an diese verzweifelte Nahrungsverwertung gewöhnen konnte.
    In Wien lernte Lena Sternhalma spielen, ein Brettspiel aus seiner alten Kinderspielesammlung. Die Regeln waren einfach. Jeder Spieler bekam fünfzehn kleine Männchen, die er in eines der sechs dreieckigen Felder stellte. Es kam darauf an, durch raffinierte Sprünge über die eigenen und die fremden Männchen das freie Dreieck gegenüber zu erreichen. Er nannte die Felder Blocks, die Figuren Kameraden, er wählte immer die Farbe Rot, rot war sein Winkel im Lager, Lena durfte zwischen schwarz und grün wählen, gelbe Männchen gab es in dem Spiel nicht mehr. Wähle!

Weitere Kostenlose Bücher