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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Schwarz oder grün?
    Schwarz waren die Winkel der Asozialen, der Asos, wobei niemand genau wusste, was für die Nazis ein Aso war. Einer ohne Wohnung, ohne Arbeit, eine Diebin, ein Bettler, ein Arbeitsscheuer, eine Prostituierte, möglich war alles. Grün war die Farbe der BV’er, der Berufsverbrecher, sie machten die Drecksarbeit der Nazis. Lena mochte Grün lieber als Schwarz, aber unter diesen Umständen wählte sie die schwarzen Kameraden. Heiner hatte Halmaspielen von Kostek gelernt, einem Schreiber im Häftlingskrankenbau. Kostek hatte den sechszackigen Stern auf einen geklauten Fetzen Papier gemalt, als Figuren benutzten sie kleine Steinchen, helle und dunkle, die sie auf der Lagerstraße aufgelesen hatten. Zwei Arbeitskommandos überquerten die Lagerstraße und jeder benutzte jeden als Sprungbrett. Heiner hatte einen scharfen Blick für raffinierte Sprünge. Er mochte das Spiel, weil der Gegner nicht ausgesondert, nur ausgetrickst wurde. Er spielte mit tiefem Ernst. Oft sprangen die roten Kameraden weit über das Spielfeld hinaus.

Wenn die Schicht in der Schreibstube zuende war, schlich er auf den Dachboden. Er wusste, was er riskierte; für ›Dachbodengucken‹ konnte man erschlagen werden. Durch ein kleines Fenster sah er in den gegenüberliegenden Hof von Block 11, den sie ›Todesblock‹ nannten. Von der Lagerstraße war der Hof nicht einsehbar, ein Tor versperrte den Blick. In diesem Hof war die ›Schwarze Wand‹, die Todeswand. Zwei Jahre lang stand Heiner, wann immer er sich davonstehlen konnte, am Dachbodenfenster. Das war seine Mission: Zeuge sein, um eines Tages vor Gericht zu sagen: Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Manchmal stand er starr dort oben, gelähmt von dem, was vor seinen Augen passierte. Grausamer, als ermordet zu werden, war, einem Mord zuzuschauen. Er stand hinter der Scheibe und weinte und zählte: An einem Nachmittag, es war die Vergeltungsaktion für einen Partisanenangriff in Warschau, wurden zweihundertachtundsiebzig Menschen vor die Schwarze Wand gezerrt und durch Genickschuss getötet. Zweihundertachtundsiebzig. Und Bunker-Jakob, sein armer Kamerad, musste sie nacheinander zur Wand führen. Zweihundertachtundsiebzig nackte Männer und Frauen. Einige tobten, einige schrieen und weinten, die meisten ließen sich still vor die Wand stellen, sie wussten, dass hier Zufall und Glück nicht mehr halfen. Bunker-Jakob war groß und stark wie ein Bär. Auch die, die sich wehrten, hielt er am Oberarm fest bis zum Genickschuss. Ein lieber Kerl. Häftling wie die, die er vor die Todeswand stellte. Er hatte sich die Arbeit nicht ausgesucht.
    Heiner stand an diesem Nachmittag wieder einmal am kleinen Dachbodenfenster. Zeuge sein. Mitzählen. Jeder Schuss war wie ein Schuss in den eigenen Nacken. Nicht vergessen. Zweihundertachtundsiebzig an einem Nachmittag. Die Zahl laut aussprechen, das prägt sich besser ein. Nach der Aktion kamen Wagen aus Holz mit schräg stehenden Seitenwänden und einer Deichsel wie sie Bauern auf den Feldern benutzten. Um nichts zu vergessen, sagte er: Dann kamen Wagen aus Holz mit schräg stehenden Seitenwänden wie sie Bauern auf den Feldern benutzen. Die Toten wurden aufgeladen, von Häftlingen zum Krematorium gezogen, zwischen den Brettern floss das Blut auf die Lagerstraße. Seine Augen wollten nicht offen bleiben, sie aufzureißen, war schwere Arbeit.
    Einmal, wieder stand er auf dem Dachboden, beobachtete er Rapportführer Gerhard Palitzsch, die Geißel des Lagers. Die Pest. Vor ihm ging eine Frau, die ein Baby auf dem Arm trug und neben ihr ein Mann mit zwei Kindern an der Hand, ein Mädchen und ein Junge, vielleicht vier und sieben Jahre alt. Das Mädchen hatte lange Zöpfe, der Junge trug eine schwarze Ballonmütze. Das Mädchen hatte lange Zöpfe, der Junge trug eine schwarze Ballonmütze. Sie gingen auf Block elf zu. Er hörte hinter sich ein Geräusch, eine quietschende Tür und fuhr herum. Wenn er hier entdeckt würde, war der Weg zur Schwarzen Wand kurz, nur ein paar Schritte, auf einen Toten mehr kam es nicht an. Ich bin’s, flüsterte Kostek. Heiner rückte zur Seite, jetzt gab es zwei Gesichter hinter der Scheibe. Er kommt mit einer Familie, sagte Heiner, das geht übel aus. Palitzsch öffnete das Tor. Die Frau und der Mann ließen sich ohne Widerstand vor die Todeswand stellen. Es war still im Hof. Palitzsch hob das Gewehr. Heiner hörte sein Herz hämmern, er wusste, was passieren würde. Kostek biss sich auf die Knöchel. Die Familie

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