Der Schrecken verliert sich vor Ort
verscheuchte. Sie wusste nicht, wie lange ihre Liebe für den Teil des Mannes reichte, der im Lager geblieben war.
An einem lauen Sommerabend stieg Heiner in Frankfurt aus dem Zug. Es war der 5. August 1965. Er trug einen Leinenanzug und einen hellbraunen Hut. Er hatte die Locken ein wenig gestutzt. Du bist der schönste Mann im Zug aus Wien, sagte Lena.
Diese Reise hatte ihn keine besonders große Überwindung gekostet, sie gehörte zu seiner Mission. Er reiste nach Deutschland, um die Schlussworte der Angeklagten zu hören. Er erwartete keine Reue, keiner würde zusammenbrechen, aber vielleicht, das war die irrwitzig-kleine Hoffnung, mit der er gekommen war, gab es einen Angeklagten, der sagte: Ja, ich bin schuldig. Ich habe getan, was mir zur Last gelegt wird. Ich verstehe nicht, warum ich es tat, ich muss ein anderer gewesen sein. Heiners Welt sähe weniger düster aus.
Ein Jahr war vergangen, seit Lena den ohnmächtigen Heiner auf dem Gerichtsflur gefunden hatte. Der Prozess ging zu Ende. 350 Zeugen waren gehört worden, die Akten waren auf achtzehntausend Seiten angewachsen und eine Kommission aus Richtern, Staatsanwälten, Verteidigern und Nebenklägern war mehrmals zum Ortstermin nach Polen gereist, eine Recherche mit dem Zentimetermaß. Sie schritten Entfernungen ab und protokollierten sie. Wie viele Meter waren es von Block 21 über die Lagerstraße zur Schwarzen Wand? Konnte man aus dem Block 21 vom Fenster des Dachbodens das Gesicht von Palitzsch erkennen, das Gesicht von Boger? War es möglich, die Gesichter auseinanderzuhalten? Die Kommission war akribisch, man saß nicht über Moral zu Gericht, sondern über beweisbare Taten. Was, wenn Boger behauptete, er sei zu dem Zeitpunkt, an dem Heiner ihn gesehen hatte, im Urlaub gewesen? Wenn Bruno Schlage dabei blieb, im Block 11 nichts gehört und nichts gesehen zu haben? Also maßen sie, Zentimeter für Zentimeter, nach, was sie von den Zeugen im Gerichtssaal gehört hatten. Sie spielten Opfer und Täter. Wer konnte wen von wo aus gesehen haben? Wer konnte wen von wo aus auf keinen Fall gesehen haben? Konnte man aus hundert Meter Entfernung einen Menschen erkennen? Weiß man, wer er ist, wenn man ihn nur von hinten sieht? Weil man die Figur kennt, die Art, sich zu bewegen, weil mit ihr Gefahr verbunden ist? Wie viele Meter lagen zwischen dem Dachfenster des Blocks 21 und der schwarzen Wand? Der Gerichtsfotograf machte fünftausend Bilder vom Tatort. Den Text zu den Bildern hätte kein Häftling formulieren können, er hätte sich an der Sprache verschluckt: ›An Ort und Stelle wurde festgestellt, daß drei Gleisanlagen vorhanden sind und daß, in Richtung auf die Krematorien gesehen, von links nach rechts folgende Anlagen vorhanden sind: a) eine 5,5 m breite, befestigte Straße, b) ein im Scheitel 7,00 m breiter Graben, c) im Abstand von 5,40 m vom rechten Grabenrand entfernt das erste Geleise, d) im Abstand von 3,50 m davon die zweite Gleisanlage, e) danach eine geschotterte, mit festen Bordsteinen umrandete Laderampe von 10,50 m Breite, f) vom rechten Bordstein der Rampe im Abstand von 1,20 m befindet sich das dritte Geleise, g) rechts vom dritten Geleise, in einem Abstand von 1,80 m, unregelmäßig beginnend, befindet sich ein Graben von 3,80 m Breite.‹
Das war die Rampe.
Auch die Sprache wurde vermessen. Zu Protokoll genommen werden sollte der Satz: Sodann begab sich das Gericht zu den Gräben, wo die Leichen verbrannt wurden. Der Verteidiger eines Angeklagten gab zu bedenken, es müsse doch eher heißen: Wo die Leichen verbrannt worden sein sollen. Man bedachte die Bedenken und formulierte im Konjunktiv: Wo die Leichen verbrannt worden sein sollen.
Die Kommission besichtigte Block 20, wo Klehr mit Phenol getötet hat oder getötet haben soll. Dort gab es nichts mehr zu sehen. Die Wände waren herausgebrochen, kein Raum war mehr wie damals. Staub und Schutt hatten alles grau gemacht. Niemand konnte sich hier den Mann mit der Spritze vorstellen und niemand einen Heiner in Todesangst.
Zu den perfidesten Torturen gehörten die vier ›Stehzellen‹ in den Kellerräumen des Blocks 11. Sie waren keinen Quadratmeter groß. Wie Hunde mussten immer vier Häftlinge durch einen Spalt am Boden hineinkriechen, hinter ihnen wurde das Loch verriegelt. In der Zelle war es schwärzer als die finsterste Nacht, auch durch das Luftloch, fünf mal fünf Zentimeter, fiel kein Licht. Sie standen nicht, sie hockten nicht, sie konnten sich nicht legen, sie waren
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