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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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bewegungslos aneinandergequetscht. Sie schrieen, stöhnten, weinten, in Stehzellen haben Häftlinge den Verstand verloren – konnte man das hören? Überhören? Konnte man hier Aufseher sein und von den Zellen nichts gewusst haben? Hier half der Kommission kein Millimetermaß. Weil dort unten im Keller niemand mehr schrie, musste sie die Geräusche selbst herstellen, um herauszufinden, was damals zu hören gewesen war, wenn dort einer geschrien hat oder was zu hören gewesen wäre, wenn dort einer geschrien hätte – und ob Unterscharführer Bruno Schlage die Wahrheit sagte, wenn er behauptete, er habe hier nie etwas gehört.
    Wohl, weil kein Mitglied der Kommission die Angst- und Todesschreie der Häftlinge nachahmen wollte, bat man Justizwachtmeister Lanz in einer der Zellen Sah ein Knab ein Röslein steh’n zu singen, das Lied, mit dem die Häftlinge ins Lager einzogen, wenn sie zerschlagen, die toten Kameraden auf der Schulter, von der Arbeit kamen. Der Wachtmeister schmetterte aus voller Kehle, er war gut zu verstehen. In dieser Lautstärke haben die Häftlinge geschrieen oder könnten geschrieen haben.
    Über die Recherche der Kommission zu den ›Hörbarkeitsverhältnissen‹ im Keller von Block 11 lachte Heiner bis ans Ende seines Lebens sein Heiner-Lachen, das sich wie ein Anfall von Asthma anhörte.

Er ging früh ins Bett, klammerte sich an Lena, konnte auch in ihrer Wärme immer nur ein paar Minuten schlafen, dann schreckte er hoch, geweckt durch das eigene Stöhnen, das unheimlicher klang als ein Schrei. Lena hatte kleine Lampen mit schwachem Licht gekauft, wie sie in seinem Wiener Schlafzimmer standen. Er sollte auch bei ihr nicht ins Dunkle starren, wenn er nachts die Augen aufschlug. Es war die Nacht vor dem Tag, an dem die Angeklagten Schlussworte sprechen durften.
    Lass sie reden, sagte Lena, danach werden sie verurteilt und weggesperrt, wovor hast du Angst? Nicht vor den Urteilen, sagte Heiner, mir graust vor den Stimmen. Gegen vier Uhr morgens stand Lena auf, kochte pechschwarzen Kaffee und füllte damit zwei Thermoskannen. Heiner saß im Bett und stürzte den heißen Kaffee in sich hinein. Ohne Zucker, ohne Milch, zu jeder Tasse eine Zigarette. Lena nannte diese Art der ersten Mahlzeit Heiners Nuttenfrühstück. Auf den 6. August 1965 bereitete er sich vor wie auf einen Prüfungstag. Er zog sich gut an, den schwarzen Anzug, das weiße Hemd, er stand lange vor dem Spiegel, rasierte sich sorgfältig, bürstete die braunen Locken, war ein Herr an diesem Morgen, gut duftend und sehr elegant. Die Distanz zwischen ihm und den Angeklagten sollte größer sein als zwischen Erde und Mond. Nach zwanzig Monaten ging der Prozess zu Ende und kein Täter sollte den Häftling Nr. 63.387 erkennen.
    Die Hände ineinander verschränkt, gingen Heiner und Lena über die große Brücke, am Bahnhof vorbei ins Gallusviertel. Der Saal war voll, dennoch war es leiser als an anderen Tagen, die Zuhörer flüsterten wie im Theater, bevor sich der Vorhang hebt. Die blauen Vorhänge waren zugezogen, es war heiß im Saal, im Neonlicht sahen die Gesichter alle gleich blass aus. Die Angeklagten betraten den Saal in derselben Reihenfolge wie all die Tage, Wochen und Monate zuvor. Arrestzellenaufseher Bruno Schlage an der Spitze. Heiner sah auf die Uhr. Um acht Uhr achtundzwanzig kamen die Richter und Geschworenen, die Angeklagten erhoben und verbeugten sich, jeder auf seine Art. Boger lächelte. Kaduk stand stramm, legte die Hände an die Hosennaht, reckte das Kinn zur Decke, sein trotziger Versuch, die Verhandlung lächerlich zu machen, Klehr grinste, das war zu viel. Heiners Kopf schnellte zur Seite, als hätte ihn jemand herumgerissen. Er wollte die Täter ja sehen, er wollte hören, was sie zu sagen hatten, aber Augen und Ohren gehorchten ihm nicht, sie flüchteten. Er kniff die Augen zusammen, atmete tief in den Bauch und versuchte es noch einmal. Langsam drehte er den Kopf zurück. Er wollte die Gesichter nicht vergessen, auf keinen Fall. Kapier das System, was hier geschieht, gehört zu damals. Von zwanzig Angeklagten kannte er fünf. Alle hatten gemordet. Von Millionen Toten, die sie hinterlassen hatten, konnten ihnen 17.670 nachgewiesen werden, und keiner der Männer sah aus, als hätte er in den letzten Jahren schlecht geschlafen. Heiner sah in Durchschnittsgesichter. Auf der Anklagebank saßen bieder gekleidete Herren mit weißen Haaren oder Glatze. Behäbige Ehemänner, Väter, Großväter. Nur Boger hatte das

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