Der Schrecken verliert sich vor Ort
scharfe Gesicht behalten, mit dem er, wo immer er damals auftauchte, Panik verbreitete. Boger, der Lagerteufel. Heiner verglich die Gesichter der Angeklagten mit denen der Zeugen. Und wenn niemand die Gesichter der Täter von denen der Opfer unterscheiden konnte – er sah den Unterschied. Es waren die Augen. Die Augen seiner Kameraden waren, auch wenn sie lachten, von so tiefer Traurigkeit wie nur Augen sind, die mehr sehen mussten, als sie fassen können. Und dahinter saß, wie ein Erkennungszeichen, die Todesangst, die mit der normalen Angst vor dem Tod nichts zu tun hatte.
Die Täter würden ihn nicht erkennen, nicht einen einzigen Häftling würden sie wiedererkennen. Für sie sah damals einer wie der andere aus, zigtausend stinkende Gestalten. Ihre Knüppel trafen Kahlköpfe in gestreiften Lumpen. Nun trugen diese Gestalten Anzüge, sie hatten braune, blonde, weiße Haare, lang oder kurz, glatt oder lockig, sie hatten ein unverwechselbares Gesicht und einen Namen. Sie waren Menschen. Heiner sah nach vorne. Die Richter ordneten ihre Akten, putzen die Brillen, der Staatsanwalt zerriss die Notiz, die der Gerichtsdiener gebracht hatte. Für alle war der 6. August 1965, der 180. Verhandlungstag, ein Ereignis.
Seit einer Weile spürte Heiner den Blick eines Mannes, der zu den Angeklagten gehörte. Er versuchte ihn zu ignorieren, auf keinen Fall wollte er erkannt oder gegrüßt werden. Lena stieß ihn an. Heiner, flüsterte sie, da sucht dich einer. Er drehte den Kopf, der Mann sah ihm direkt in die Augen, ein Großvater mit fast kahlem Kopf. Die schwarzen Pupillen – stechend und riesengroß, keinen Meter waren sie damals von ihm entfernt gewesen. Er war es. Rottenführer Emil Hantl, das Fischmaul, beschuldigt, an Selektionen mitgewirkt und Häftlinge mit der Phenolspritze getötet zu haben. Erkannte Hantl ihn? War das leichte Nicken ein Gruß? Erinnerte er sich an ihre Nacht im Block 21?
Häftlingskrankenbau, Nachtschicht, sechzehn Schreiber bei der Arbeit, ratternde Tasten. Gestorben an Phlegmonen, Lungenentzündung, Typhus, Fleckfieber. Die Tür geht auf, Rottenführer Hantl betritt die Schreibstube. Er ist kein großer Mann, einssiebzig vielleicht, viereckig, untersetzt. Sein Mund steht immer ein wenig offen, als wäre die Unterlippe ausgeleiert. Heiner, der in dieser Nacht Schichtführer ist, springt auf, steht stramm und ruft: Häftling 63.387 mit fünfzehn Mann bei der Arbeit.
Weitermachen!
Jawohl, Herr Rottenführer.
Mit Hantl verband ihn, wenn man das überhaupt so nennen konnte, eine kleine Nähe, eine Episode, ein paar Minuten, in denen ihn Hantl gefragt hatte, warum er im Lager sei und Heiner von Wien, vom Krieg und dem kleinen Städtchen Abbeville an der Somme erzählt hatte und Hantl von seinem Vater, der an die Ostfront geschickt worden war. Fast eine Plauderei, ein kleiner Austausch. Hantl hatte Bäcker gelernt, fand nach der Ausbildung keine Arbeit, wurde Laufjunge in der Textilfabrik am Ort, entdeckte dort seine Liebe zur Schneiderei, besorgte sich Stoffreste und begann nachts zu nähen. Zuerst einfache Unterwäsche, später gelangen ihm Westen und Hemden. In seiner Freizeit habe er gerne geturnt, sagte Hantl, aber nach der Annexion des ›Sudetengaus‹ sei der ganze Turnverein von der SS verschluckt worden und dann wurde er von einem Ort zum anderen geschickt, mal hier hin, mal dort hin, wie ein Päckchen, das keiner haben will, bis er eines Tages in Auschwitz strandete und Aufseher im Häftlingskrankenbau wurde.
Als er in jener Nacht die Tür öffnet und mit halb offenem Mund die Schreibstube betritt, sieht er für Heiner wie ein Gestörter aus.
Herr Rottenführer, was ist passiert? Ist Ihr Vater gefallen?
Setzen wir uns ins Dienstzimmer!
Das ist ein Befehl. Heiner ist es mulmig, man sitzt nicht so einfach mit einem SS-Mann im Dienstzimmer, das ist lebensgefährlich. Hantl greift in die Manteltasche und wirft seine Zigarettenschachtel auf den Tisch.
Willst ne Zigarette?
Gern, Herr Rottenführer.
Sie rauchen und schweigen. Heiner sitzt ganz vorne auf der Stuhlkante, bereit, jederzeit aufzuspringen. Die Welt ist verdreht, so funktioniert sie hier nicht. Er muss Todesmeldungen tippen, er ist Schichtführer. Die Zigarette kann ihn das Leben kosten. Er macht einen zweiten, zaghaften Versuch.
Herr Rottenführer, ich seh es Ihrem Gesicht an, es ist etwas passiert.
Lass mich, rauch noch eine.
Jawohl, Herr Rottenführer.
Wenn es Hantl in den Sinn kommt, kann er ihn erschießen, einfach
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