Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
Vom Netzwerk:
nur, weil seine Laune bei der zweiten Zigarette eine andere ist als bei der ersten.
    Hantl sagt: Wie heißt du?
    Heiner springt auf: 63.387.
    Sag den Vornamen!
    Heiner, Herr Rottenführer, ich heiße Heiner.
    Heiner, rauch noch eine.
    Heiner zieht zwei Zigaretten aus der Schachtel, eine für sich, eine für Kostek. Er rechnet. Zehn Minuten für eine Zigarette, er raucht die dritte, also sitzen sie sich seit einer halben Stunde gegenüber und Hantl schweigt und starrt auf den Tisch. Heiner fühlt sich wie auf dem elektrischen Stuhl, er wartet auf den tödlichen Schlag. Plötzlich hebt Hantl den Kopf.
    Wie lange kenne ich dich?
    Heiner springt auf, reißt die Mütze vom Kopf. Ein Jahr, Herr Rottenführer.
    Setz dich.
    Jawohl, Herr Rottenführer.
    Du bist ein anständiger Kerl, du wirst mich nicht verraten – oder?
    Heiner springt auf. Man steht stramm, wenn man von einem SS-Mann angesprochen wird.
    Aber Herr Rottenführer, was soll ich verraten?
    Setz dich, rauch eine.
    Jawohl, Herr Rottenführer.
    Hantls Pupillen sind riesig. Der Mann ist irre, denkt Heiner, was soll ich tun? Wenn ich seinen Blick nicht aushalte, erschießt er mich. Wenn ich wegschaue, vielleicht auch. Er spricht leise, wie zu einem Kind.
    Herr Rottenführer, ehrlich, ich kann schweigen wie ein Grab.
    Und dann redet Hantl. Erst leise und stockend, dann schneller und immer lauter, zum Schluss schreit er: Hundertsiebenundvierzig Züge! Vierhunderttachtunddreißigtausend Juden aus Ungarn! Und ich, Hantl, abkommandiert an die Rampe! Dreihundertsechzigtausend sind sofort in die Gaskammern getrieben worden und, das musst du mir glauben, ich kann da keinen Dienst tun! Ich kann das nicht!
    Heiner sieht sich erschreckt um. Gott sei Dank, es ist niemand in der Nähe. Dass sich Hantl um Kopf und Kragen redet, ist ihm egal, er hat Angst um das eigene Leben. Mit einem SS-Mann am Tisch sitzen, in der Hand die Zigarette, das ist schlimmer, als würde man ihn beim Klauen erwischen.
    Weil nämlich die Krematorien zum Verbrennen der Leichenberge nicht ausreichen, schreit Hantl, und damit die Leichen nicht faulen und stinken, werden Gräben ausgehoben: Hundert Meter lang und fünfzig Meter breit. Leichen reingekippt, Petroleum drauf und angezündet. In Birkenau brennen Scheiterhaufen, das kannst du dir nicht vorstellen, riesengroße Scheiterhaufen!
    Am liebsten würde er Hantl den Mund zuhalten. Er muss zur Arbeit, er ist Schichtführer in dieser Nacht, er darf hier nicht länger sitzen. Er versucht, so langsam aufzustehen, dass es Hantl nicht auffällt.
    Bleib sitzen, rauch noch eine.
    Jawohl, Herr Rottenführer.
    Weißt du von den Kindern?
    Nein, Herr Rottenführer, welche Kinder?
    Befehl von ganz oben: Schafft die Kinder zu den Scheiterhaufen, die Gaskammern sind voll. Ich hab es gesehen: Sie packen sie bei den Armen und bei den Beinen und dann – lebendige Kinder! Ins Feuer! Säuglinge! Die Arme ausgebreitet, sie fliegen ins Feuer wie Schmetterlinge.
    Hantl greift nach Heiners Händen. Er flüstert. Immer denselben Satz: Ich kann diese Arbeit nicht machen, ich kann diese Arbeit nicht machen, ich will an die Front, verstehst du, ich kann diese Arbeit nicht machen. Was starrst du mich an, willst du mich verraten?
    Nein, Herr Rottenführer, bestimmt nicht. Ehrenwort!
    Hantl steht auf und greift sich mit der trägen Bewegung eines Schlafwandlers unter den Mantel, dorthin, wo die Pistole sitzt.
    Das war’s, denkt Heiner, dein Leben für diese Nazibeichte. Er hat keine Angst, er fühlt sich kalt und ruhig, längst hatte er sich auf die Sekunde vorbereitet, in der er sterben würde. Er dachte nie an einen langsamen Tod, er stellte ihn sich schnell, überraschend und ohne Ausweg vor. Das war die erste Lektion, die er gelernt hatte: Du kannst sterben. Für einen Blick, der zu neugierig, zu entsetzt, zu frech, zu devot oder nicht devot genug ist. Für einen Schritt. Zu schnell, zu langsam, zu lässig. Du kannst sterben, weil du deine Nummer falsch aufgesagt hast. Zu leise, zu laut, zu stockend, zu langsam oder zu schnell. Du wirst erschlagen, weil du den Text eines Liedes nicht kennst. Wenn einer töten will, ist jeder Anlass recht. Das Bett nicht richtig gemacht. Das Hemd falsch in die Hose gesteckt oder richtig und es sah nur falsch aus. Beim Grüßen die Mütze zu langsam vom Kopf gerissen oder zu schnell. Auch kein Anlass war ein Anlass, auch Langeweile aber erst recht mit einem SS-Mann am Tisch sitzen, Zigaretten rauchen und sagen, dass man Heiner heißt. Wenn Hantl

Weitere Kostenlose Bücher