Der Schrecken verliert sich vor Ort
gut zielt, ist es schnell vorbei, er hat sich auf diese Sekunde vorbereitet. Nichts will er mitnehmen als die Erinnerung an Martha. Wohin es geht nach dem Tod, ist ihm egal. In der Hölle ist er schon und an den Himmel glaubt er nicht. Es ist ein Trost, sich vorzustellen, dass Marthas Gesicht ihn begleitet. Er hatte einen Aufsatz gelesen, in dem es hieß, das Totsein bestünde aus Erinnerungen, ein Gedanke, der ihm, je länger er darüber nachdachte, gut gefiel. Seine Erinnerung soll aus einem Gesicht bestehen, mehr braucht er nicht, nur dieses Gesicht. Aber in der Sekunde, in der Hantl hinter sich greift, sieht Heiner so viele Bilder wie gar nicht in eine Sekunde passen. Sie wirbeln durcheinander, als hätte ein Sturm sie aus dem Fotoalbum gerissen. Vater, Mutter, Großmutter, die Schwestern mit roten Schleifen im Haar, Ausflüge in die Berge, Picknick auf der Wolldecke. Er will diese Bilder nicht mitnehmen, er muss Marthas Gesicht finden, aber das ist hier nicht eingeklebt worden. Wo soll er suchen? Die letzte Nacht, im Bett mit den Gendarmen. Da ist es. Und als das Bild seinen ganzen Kopf ausfüllt, das Gesicht, in das er sich als Kind bei den Roten Falken verliebt hatte, schmal und frech wie das eines Jungen, schließt er die Augen. Tod ist Erinnerung. Marthale, du musst mir was Schönes jetzt kaufen, Heinerle, Heinerle, hob kei Geld. Wenn ich aber Geld tu haben, Zuckerl, Kasperl, Ringelspiel, gar nix ist mir dann zu viel. Für mei Buberl Heiner, du, tut die Martha alles nun.
Heiner sitzt auf der Stuhlkante, die Hände an den Sitz gekrallt, die Augen zusammengekniffen. Er hört die harten Anschläge der Tasten. Die Kameraden tippten im Akkord: Lungenentzündung, Phlegmonen, Herzinfarkt, Fleckfieber, Typhus. Sein Herz schlägt. Er atmet. Er friert. Er öffnet die Augen. Er lebt. Hantl setzt seine Bewegung dort fort, wo Heiner begann, Marthas Gesicht zu suchen. Hantl zieht die Pistole aus dem Holster und entsichert sie.
Herr Rottenführer, großes Ehrenwort, ich sage nichts.
Hantl legt die Pistole auf den Tisch.
Heiner, erschieß mich.
Im Gerichtssaal war es still. Wie lange hatte er Hantl angesehen? Wie lange Hantl ihn? Dachten sie an die gleiche Nacht vor über zwanzig Jahren? Sie lösten die Augen voneinander und sahen nach vorne. Der Senatspräsident sagte, ein Schlusswort sei eine Chance, keine Pflicht und jeder Angeklagte möge sich überlegen, ob er nicht buchstäblich in letzter Minute das Eis des Schweigens brechen wolle. Es ginge in diesem Raum an diesem Morgen um Sühne, nicht um Rache.
Lena legte ihre Hand auf Heiners Hand, die war eiskalt. Zwanzig Angeklagten waren 17670 nachweisbare Morde zur Last gelegt worden. An Heiner rauschten die Schlussworte der Täter vorbei wie ein vielstimmiger Chor, der das Lied der Unschuld sang, unterbrochen von einzelnen Solostimmen. Herr Präsident, Hohes Gericht! Galgen? Wir haben Galgen gesehen, nicht aber, dass dort Häftlinge gehenkt wurden. Transporte, die ins Gas getrieben wurden? Es gab Gerüchte, gesehen haben wir nichts. Wir haben kein gutes Gedächtnis. Von verhungerten Häftlingen wissen wir nichts. Die vielen Toten sind uns nicht aufgefallen. Solostimme von Boger: Lassen Sie mich, hohes Gericht, an dieser Stelle jener Häftlinge ohne Unterschied der Rasse und Religion gedenken, die im Konzentrationslager umkamen. Lassen Sie mich aber auch der SS-Leute gedenken, die in Auschwitz Dienst tun mussten. Chor: Herr Präsident, Hohes Gericht. Zu Tode geprügelt mit Ochsenziemern? Wir kennen keine Ochsenziemer. Von Vergasungen haben wir gesprächsweise gehört, es wurde viel geredet im Lager. Massenerschießungen an der Schwarzen Wand? Scheiterhaufen in Birkenau? Gerüchte! Herr Präsident, Hohes Gericht. Wir taten, was wir mussten. Wir haben keinem etwas zu Leide getan. Wir sind nicht schuldig geworden, wir haben tiefes Mitleid mit den unglücklichen Opfern gehabt. Solo Klehr: Als kleiner Mann bin ich nicht Herr über Leben und Tod gewesen. Nur die Befehle der Ärzte habe ich ausgeführt und nur mit tiefem inneren Widerstreben. Herr Präsident, Hohes Gericht. Wir haben niemanden misshandelt, erschlagen, ertränkt. Wir sind die Opfer, wir haben getan, was getan werden musste. Wir waren befehlsunterworfene Soldaten. Solo Hantl: Ich habe nach der reinen Vernunft gehandelt, ohne Ansehen der Rasse. Durch mich ist keiner zu Tode gekommen . Herr Präsident, Hohes Gericht. Wir schließen uns den Worten der Vorredner an. Wer vor dem Krieg ein Mensch war, ist ein Mensch
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