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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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nicht, er hat keinen Grund, sich in Übersee zu verstecken, er hat kein schlechtes Gewissen. Auschwitz spielt in seinem Alltag keine Rolle. Er hat zwei Söhne aus der ersten und drei Töchter aus der zweiten Ehe, er liebt seine Kinder und seine Kinder lieben ihn. Er spielt mit ihnen Mensch-ärgere-dich-nicht und Halma. Sonntags fahren sie zum Picknick auf die schwäbische Alb. Er ist mit seinem Leben zufrieden, er schläft gut, seine Frau hat ihn nachts noch nie schreien hören. Es ist der 1. März 1958 und er ahnt nicht, dass ein ehemaliger Häftling weiß, wo er wohnt und ihn angezeigt hat. Richtig?
    Heiner sah ungeduldig vom Essen auf. Worauf willst du hinaus?
    Langsam. Ich will etwas verstehen. Eines Tages klingeln bei Frau Boger zwei Kripobeamte, erkundigen sich nach ihrem Mann und sie fragt erschrocken, ob etwas passiert sei. Die Polizisten beruhigen sie. Alles sei in Ordnung, Frau Boger.
    So war das nicht, sagte Heiner, stell dir das nicht idyllisch vor. Nach der Anzeige gegen Boger passierte monatelang gar nichts. Kein schwäbischer Staatsanwalt nahm die Ermittlungen auf, niemand nahm die Anzeige ernst, Boger war ein unbescholtener Bürger. So war das. Erst als mein Kamerad Langbein vom Internationalen Auschwitz-Komitee elf Zeugen gegen Boger präsentierte, kam der Stein ins Rollen. Niemand klingelte bei der besorgten Frau Boger, ihr Mann wurde acht Monate nach der Anzeige an seinem Arbeitsplatz verhaftet.
    Darum geht es nicht, sagte Lena, du lässt mich nicht ausreden.
    Worum geht es denn?
    Ich will die Frau verstehen. Irgendwann erfährt sie, was ihrem Mann vorgeworfen wird – und dann? Fragt sie ihn? Was für ein Drama zwischen zwei Menschen. Und was sagt er?
    Was soll er sagen! Dass die Vorwürfe Unsinn sind. Dass durch ihn niemand sein Leben verloren hat. Hast du heute Morgen nicht zugehört? Oder denkst du, er wird sagen: Liebste, ich habe dort nur eine kleine Sprechmaschine erfunden, der niemand widerstehen konnte.
    Darum geht es, sagte Lena. Will Frau Boger wissen, wo »dort« war und was »dort« geschah? Und wenn sie es von ihm nicht erfährt, versucht sie dann, sich selbst ein Bild zu machen? Es gibt Berichte, Zeugen, die Anklageschrift …
    Heiner warf das Besteck auf den Tisch. Sein Lachen war böse. Recherchieren, fragte er, sich informieren? Mit denen sprechen, die es überlebt haben? So stellst du dir das vor? Vielleicht löst die Dame eine Fahrkarte erster Klasse nach Wien, klingelt an der Tür des Zeugen Heiner Rosseck und flötet: Grüß Gott, Herr Rosseck, Boger mein Name, ich möchte mit Ihnen über meinen Mann sprechen.
    Hättest du sie reingelassen? Hättest du ihr erzählt, was du gesehen hast?
    Lena, sagte Heiner scharf, das ist nicht passiert! Vor niemandes Tür stand je der Angehörige eines Täters, um nach der Wahrheit zu fragen. Ich weiß von keiner Frau, die sich hat scheiden lassen. Sie haben sich nicht angeekelt abgewandt. Sie haben sich anfassen lassen, sie haben mit ihren Männern geschlafen und Kinder gezeugt.
    Weil sie ihnen geglaubt haben?
    Lena – seine Stimme war schrill – diese Frauen waren Nazis wie ihre Männer! Himmler hat ihnen aus der Seele gesprochen, ihre Männer taten einen harten Job, sie waren die eigentlichen Opfer, du kennst die Sätze. Die Männer hatten Leichenberge ausgehalten und waren anständig aus dem Krieg zurück gekehrt.
    Sein Gesicht war weiß, seine Augen böse. Es wäre besser gewesen, das Thema zu wechseln oder zu schweigen, aber wem hätte sie die Frage, an der sie kaute, sonst stellen sollen.
    Und wenn die Kinder erfahren, was ihr Vater …
    Die deutsche Frau – Heiner schrie – so habe ich sie mir vorgestellt! Seine Hände zitterten. Mitleid mit den Gattinnen der Mörder! Tränen für deren Brut! Weißt du, warum ich in Deutschland nicht leben kann? Euer Einfühlungsvermögen in die Lagerteufel bringt mich um!
    Als würde er sich vor den Huhn- und Soßenresten ekeln, stieß er den Teller zur Seite. Die Kellner sahen sie erschrocken an. Lena stand auf. Leise sagte sie: So redest du nie wieder mit mir, hast du das verstanden?
    Er bezahlte die Rechnung, sie gingen mit viel Raum zwischen sich in Lenas Wohnung. Er zog sich nicht aus. Er verbrachte die Nacht im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sein Gesicht blieb starr, er tat ihr Leid. Sie setzte sich neben ihn, versuchte, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, in das er sie beide eingesperrt hatte. Das Opfer und die deutsche Frau. Lena kochte Kaffee, wärmte seine Hände. Heiner blieb stumm. Stumm

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