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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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fuhren sie am nächsten Morgen zum Bahnhof, stumm stieg er in den Zug nach Wien. Sie sah sein Gesicht hinter der Scheibe. Er sah sie an. Die Stimme im Lautsprecher sagte, man warte auf Fahrgäste aus einem Zug, der sich um sieben Minuten verspäten würde. Solange ertrug sie die Augen nicht, von denen sie nicht wusste, ob sie Abschied für immer nahmen. Sie schrieb acht Buchstaben an die Scheibe: Steig aus. Sie legte ihre Handflächen vor sein Gesicht. Er lehnte den Kopf dagegen. Als der Zug anfuhr, hatte Lena kalte Hände und Heiner eine kalte Stirn.

Bevor er den Koffer auspackte, setzte er sich an den Sekretär. Lena, schrieb er, ich muss es noch einmal sagen: Ich kann in Deutschland nicht leben. Unser Gespräch wird sich mit jedem Menschen, der von meiner Vergangenheit erfährt, wiederholen. Ihr wollt nicht wissen, was ich gesehen habe, Ihr wollt die Täter verstehen und herausfinden, ob auch Ihr vielleicht das Zeugs zum Monster gehabt hättet. Ihr fragt nach den Hintergründen des Bösen und entdeckt verkorkste Eltern, auf Gehorsam gedrillte Kinder, Eure Rechnung geht auf, das Böse entsteht aus dem Bösen und Ihr seid beruhigt. Und das Gute? Bist Du sicher, dass es sich nicht auch aus Abgründen entwickelt? Komm nach Wien!
    Was ist in Wien anders als in Frankfurt, schrieb Lena. Gibt es dort keine Nazis? War Dein Land nicht berauscht, als Adolf Euch ins Reich heimholte? Es gibt in Deiner Stadt nicht die Arbeit, die ich liebe. Im Übrigen sind wir zu alt, um uns die Länder, in die wir hineingeboren wurden, um die Ohren zu hauen. Es geht um Dich und mich, nicht um ›Ihr‹ und ›Euch‹.
    Sie nahm einen Übersetzungsauftrag an, warf Jeans und Pullover in den Koffer und fuhr zu ihrer Kinderfrau Olga. Den Brief an Heiner warf sie am Bahnhof ein, bevor sie in den Zug nach Danzig stieg. Seine Briefe blieben ohne Antwort, seine Anrufe klingelten in einer leeren Wohnung. Während er im ersten und zweiten Brief seine Empfindlichkeit verteidigte, schrieb er im dritten Brief: Liebster Schatz, wir wollen es mit ›Du‹ und ›Ich‹ versuchen. Ich liebe dich.
    Zur Verkündung der Urteile fuhr er nicht nach Frankfurt, dort gab es keine Lena, die ihn beschützen konnte. Er las die Urteile in der Zeitung. Lebenslänglich für Oberscharführer Boger, dem einhundertvierzehn Morde nachgewiesen werden konnten, die er mit eigener Hand begangen hatte und Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an tausend Menschen, das waren die Selektionen an der Rampe in Birkenau. Sechs Jahre Zuchthaus für den Aufseher im Arrestblock, Unterscharführer Bruno Schlage, für gemeinschaftlichen Mord in mindestens achtzig Fällen. Lebenslänglich für Unterscharführer Oswald Kaduk für zehn persönliche Morde und mindestens tausend Morde in Gemeinschaft. Lebenslänglich für SS-Oberscharführer Josef Klehr. Der Mann mit der Phenolspritze wurde in mindestens vierhundertfünfundsiebzig Fällen des Mordes angeklagt und, sprachlich korrekt, der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens siebenhundertfünfzig Menschen, im dritten Falle an mindestens zweihundertachtzig Menschen, im vierten Falle an mindestens siebenhundert Menschen, im fünften Falle an mindestens zweihundert Menschen und im sechsten Falle an mindestens fünfzig Menschen. Klehr nahm das Urteil nicht an.
    Heiner holte Stift und Papier, schrieb die Zahlen untereinander – 475+750+280+700+200+50 – und addierte sie. 2455. Er sah den Mann, das Zimmer mit dem Tisch und dem Stuhl, die Menschen auf dem Stuhl, die die Spritze annahmen wie eine Erlösung. Er spürte, wie ihm übel wurde. Was hatte dieser Prozess mit ihm angestellt! Er addierte die Toten wie eine Rechenaufgabe in der Schule. Er kochte schwarzen Kaffee, stellte sich ein paar Minuten ans offene Fenster und las weiter. Rottenführer Emil Hantl wurde Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in zweihundertzehn Fällen nachgewiesen. Heiner, erschieß mich. Die Strafe von drei Jahren und sechs Monaten galten durch die Untersuchungshaft als verbüßt. Rauch eine mit mir. Emil Hantl verließ den Gerichtssaal als freier Mann. Den meisten Angeklagten wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, Hantl für die Dauer von drei Jahren. Die Ausführungen des Starverteidigers Laternser las Heiner langsam und laut, um das Ungeheure zu verstehen. Die Selektionen hätten das Morden nicht befördert, sondern aufgehalten. Hitler hatte den Befehl zur Ermordung aller

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