Der Schrecken verliert sich vor Ort
geblieben.
Zwei Tage sagten die Angeklagten, was sie zu sagen hatten. Herr Präsident, Hohes Gericht, meine Damen und Herren. Wir sind nicht schuldig vor Gott und den Menschen.
Die Luft war weich an diesem 6. August 1965, einem Freitagnachmittag mit Wochenendstimmung. Der Fluss glitzerte in der Sonne wie eine Wunderkerze. An jedem anderen Tag hätte er Lena zum Eis eingeladen oder zu einer Fahrt auf dem Main und gesagt, Frankfurt sei eine Stadt mit heiteren Menschen. Aber es war nun einmal dieser Tag. Die Menschen lachten – was gab es an diesem Tag zu lachen? Abends tauchte die Sonne die Stadt in warmes Orange, als wolle sie das kalte Licht im Gerichtssaal verspotten. Der Fluss zog gleichgültig an ihnen vorbei und die Vögel ahmten den Unschuldschor aus dem Gerichtssaal nach.
Heiner und Lena folgten dem Fluss nach Osten bis zu dem Zaun, hinter dem das Gewerbegebiet begann. Sie gingen den gleichen Weg zurück am Fluss entlang nach Westen, bis ihnen eine Baustelle den Weg versperrte. Sie gingen ohne Worte, eingehakt und aneinandergelehnt. Hin und zurück, immer den gleichen Weg. Wenn die Füße schmerzten, setzten sie sich auf eine Bank und verfolgten den langsamen Weg der Schiffe gegen die Strömung und ihr schnelles Gleiten, wenn die Strömung sie schob. Bunte Container wurden von Osten nach Westen geschoben und von Westen nach Osten – auch das kam ihnen an diesem Tag ungeheuer sinnlos vor. Ich bin im Gerichtssaal, sagte Lena. Er hält mich fest, er läuft mir nach, er lässt mich nicht gehen. Es ist, als hätte man mich dort eingeschlossen.
Für Lena war es neu, von einem Ort, den sie verlassen hatte, belagert zu werden. Für Heiner gehörten diese Attacken zum Alltag. Sie erwischten ihn auf der Straße, im Kino, im Gespräch mit Freunden, ohne Anlass, überall, beim letzten Mal an einem schönen Nachmittag in einem Wiener Café. Er saß allein am Tisch, rauchte, wartete auf die Schokoladentorte, die er bestellt hatte. Am Nebentisch saß ein Paar, dessen breit geklopfte Schnitzel über den Tellerrand hingen. Sie strich das Fleisch mit Ketchup ein, er mit Mayonnaise. Sie aßen mit Lust. Es war ein Samstag. Das Radio spielte Schlager der sechziger Jahre, die Bedienung brachte tänzelnd die Torte und sang beschwingt mit: Schuld war nur der Bossanova, was kann ich dafür, Schuld war nur der Bossanova, bitte glaube mir. In diesem Augenblick legte sich für Heiner über die gute Laune im Café der kranke Nebel der Vergangenheit. Das essende Paar verschwand, die Teller mit den Schnitzeln, die tänzelnde Bedienung, er fror. Er saß in der Schreibstube und tippte im Akkord und mit zwei Zeigefingern: Gestorben an Fleckfieber, Herzinfarkt, Typhus, Phlegmonen, Tuberkulose. Er spürte die Kameraden neben sich, die Angst und wusste, dass er diese Attacke aushalten musste, sie würde sich zurückziehen. Wobei das Schlimmste an dem Zustand nicht die Bilder waren, die ihn aus der Realität rissen – es war die Einsamkeit, diese mit keinem Maß der Welt zu messende Entfernung zwischen ihm und den anderen Menschen. Er nahm dem Paar die Freude am Schnitzel nicht übel, der Bedienung nicht den Spaß am Bossanova – ihm stiegen die Tränen in die Augen, weil es so ungeheuerlich war, dass sie von seiner Welt nichts wussten. Weil sie essen, tanzen, leben konnten, ohne ein einziges Bild aus seiner Vergangenheit zu kennen. Er war ein Außerirdischer.
Am späten Abend fanden sie sich im Menschengewühl des Vergnügungsviertels Sachsenhausen wieder und fragten sich, wer hier die Irren seien – die vergnügten Menschen oder sie, die diesen Tag in sich trugen? Nicht schuldig vor Gott und den Menschen. Sie fanden ein indisches Restaurant, in dem sie die einzigen Gäste waren. Die indischen Kellner schwebten lautlos von der Küche an ihren Tisch und zurück. Sie brachten Heiner Kaffee und Lena einen süßen, kalten Pflaumenschnaps.
Was meinst du, fragte Lena, glauben die an ihre Unschuld?
Ist mir egal.
Der Kellner brachte Curryhuhn für Lena und Ente mit Ananas für Heiner.
Rede mit mir, sagte Lena.
Rede du.
Lena bestellte einen zweiten Pflaumenschnaps. Weißt du, was mich umtreibt? Heiner schüttelte den Kopf.
Boger, sagte Lena. Ich stelle mir die Vorgeschichte dieses Prozesses vor. Boger war neununddreißig Jahre alt, als der Krieg zu Ende war und aus dem Oberscharführer wieder ein schwäbischer Angestellter wird, der in den nächsten dreizehn Jahren zuverlässig zur Arbeit geht. Ein fleißiger Mann. Sesshaft. Er flieht
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