Der Schrecken verliert sich vor Ort
Juden gegeben und wer Menschen zum Arbeiten aussortiere, also nicht alle ins Gas schicke, verringere die Zahl der Opfer. Heiner las das Zitat so oft, bis er verstand, dass die Argumentation so ungeheuerlich nicht war, wie sie ihm zunächst erschien. Der Mörder als Lebensretter. Sie glaubten die Logik. Heiner schlug die Tür hinter sich zu und lief in den Augarten.
Das Lager wollte er überleben, um Zeuge zu sein. Er hatte das Lager überlebt – wo war der Sinn? Die Täter waren verurteilt, saßen ihre Strafen ab ohne Reue, ohne Einsicht, ohne Schock über das, was sie getan hatten. Er ging mit großen Schritten durch den Park. Wenn es wieder radikale Zeiten gäbe, werden dann die kleinen Jungs auf den Tretrollern die Kaduks und Klehrs von morgen? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was war mit Lena? Sie beantwortete seine Briefe nicht, sie ging nicht ans Telefon. Er rief sie früh am Morgen an und spät in der Nacht. Um in der Wohnung nicht verrückt zu werden, lief er durch den Park. Nach einer Woche kannte er jeden Weg, jede Bank, jeden Baum, die Hasen, die im Mondschein auf der Wiese spielten, die rollernden Kinder, die Dackel und Möpse an den langen Leinen, die streunenden Katzen. Er kannte den Augarten bei Sonne und Regen, Hagel und Wind. Nach zwei Wochen gehörte er dazu. Man grüßte ihn, auf ihn war Verlass. Er war der Mann mit den langen Schritten, dem Hut und der Zigarette, der Mann mit den langen Haaren, der zwar grüßte, aber so versunken wirkte, dass niemand das Gespräch mit ihm suchte. Er bewegte die Lippen, als führe er Gespräche mit einer unsichtbaren Person. Nur einmal nahm er einen anderen Weg. Er ging durch das Viertel, in dem er ein paar Jahre mit Martha und seiner Tochter gelebt hatte. Er stellte sie sich vor. Kaija. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen war jetzt zwanzig Jahre alt, eine junge Frau, die ihn auf der Straße nicht erkennen würde. Sie würden aneinander vorbeigehen wie Fremde. Er fand das Haus und ihre Namen am Klingelbrett, Martha und Kaija Rosseck. Sie hatten seinen Namen behalten. Das war schön und auch traurig, weil mehr von ihm nicht übrig geblieben war. Vorsichtig berührte er die Klingel, aber als er im Treppenhaus Schritte hörte, zog er die Hand hastig zurück und ging nie wieder durch dieses Viertel. Im Augarten war er sicherer, hier hatte er als Kind gespielt, hier hatten sich die Genossen unter die Spaziergänger gemischt und heimlich Informationen getauscht. Im Augarten hatte er Martha den ersten Liebesbrief in die Kapuze ihres Anoraks gesteckt und eine Woche gewartet, bis er ihre Antwort in der Manteltasche fand: Heinerle, ich liebe dich auch. Das ist für immer, dachte er damals und später war jeder Brief, den er im Lager schrieb und im Lager bekam, ein Versprechen: Es ist für immer. Er schrieb winzig kleine Buchstaben mit Bleistift auf graues Lagerpapier. Din-A 5, vierzehn Linien, mehr als achtundzwanzig Zeilen waren nicht erlaubt und in keinem Brief durfte der Satz fehlen: Mir geht es gut, ich bin gesund. Die Briefe wurden zensiert, kleinste Andeutungen über den Alltag geschwärzt. Er schrieb: Mein allerliebstes Herzele, der Winter ist weiß hier wie bei Euch. Es ist sehr kalt. Wenn ich zuhause wäre, könnten wir Skifahren. Meinen Geburtstag habe ich mit wenigen Kameraden gefeiert. Sie haben für mich eine Kartoffel geklaut. Mir geht es gut, ich bin gesund. Ich liebe dich, es ist für immer. Martha antwortete: Heinerle, Liebling, ich bin nach Bad Aussee gezogen. Ich lerne einen neuen Beruf. Ich führe Wanderer durch die Berge, die jetzt zu Deutschland gehören. Ich kenne interessante Pfade. Die Männer und Frauen, die sich mir anvertrauen, sind zäh. Ich liebe dich, es ist für immer. Er verstand die Botschaft. Martha hatte sich den Partisanen angeschlossen, sie versteckte bedrohte Menschen in abgelegenen Hütten. Am 4. Juli 1943 schrieb er: Mein allerliebstes, bestes Herzele, ich freue mich über die Fortschritte im neuen Beruf. Ich war schon immer stolz auf Dich und jetzt natürlich ganz besonders. Bei mir nichts Neues. Der Sommer ist lang. Es gibt keine Vögel in Auschwitz. Mir geht es gut, ich bin gesund. Ich liebe Dich, es ist für immer. Tausend Küsse, Schutzhäftling Heiner Rosseck, KL Auschwitz, Block 21, Gefangenennummer 63.387.
Sie sah, dass es ihm schlecht ging. Seine Schrift war zittrig wie die eines Greises. Auch Martha behielt die Wahrheit für sich. Sie verschwieg, dass sie nach dem dritten Besuch eines Gestapomannes aus Wien
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