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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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geflohen war. Beim ersten Besuch hatte der die Tür eingetreten und nach Namen und Adressen gefragt, beim zweiten Besuch hatte er ihr die Faust ins Gesicht geschlagen und die Wohnung verwüstet, beim dritten Besuch hatte er ihr die Pistole an den Kopf gesetzt und gesagt, seine Geduld habe Grenzen, beim nächsten Mal dürfe sie mit ihm gehen. Mein allerliebstes, bestes Herzele, schrieb Heiner in seinem dritten Auschwitzjahr, ich habe viele Menschen kennen gelernt und viele Charaktere, doch nur wenige, die ich mit Dir vergleichen kann. Wir werden die allerglücklichsten Menschen sein, auf die am Tag die Sonne scheint und in der Nacht der Mond acht gibt. Wir werden jede Minute mit Glück ausfüllen. Ich liebe dich, es ist für immer. Mir geht es gut. Ich bin gesund.
    Er log nicht einmal, gesund sein war relativ. Er lag nicht mit halb verfaulten Beinen auf verwanzten Matratzen. Er hatte Typhus und Tuberkulose überstanden, er schrieb zwölf Stunden am Tag Todesmeldungen, er brach nicht zusammen, er schaffte den Akkord. Erst als sein Körper begriff, dass der Krieg und der Kampf vorbei waren, fiel er zusammen, als wolle er ihn mitreißen in den längst fälligen Tod. Kein Arzt hatte einen Namen für das, was mit Heiner geschah. Er schwamm in einem Meer aus beißendem Schweiß und ätzendem Kot und Tränen, die brannten, als stürzten ihm Pfefferpfützen aus den Augen. Er war heiß wie ein Ofen und kalt wie Eis. Er hatte die Krankheit, die er sich all die Jahre nicht gestattet hatte – er hatte Auschwitz. Martha wagte nicht, die Wohnung zu verlassen, sie schlief nicht, sie hielt, zusammen mit Heiners Mutter, Totenwache bei einem lebendigen Menschen. Sie glaubten beide nicht, dass aus der stinkenden Kreatur, die er war, wieder ein Mensch werden konnte. Nach einundzwanzig Tagen kehrte er zurück aus einem Orkan von Stimmen, die er nicht verstand und einem Meer von Farben, die er noch nie gesehen hatte. R.U. Er war dort gewesen, wo er längst hätte sein sollen. Danach wusste er, dass das Jenseits nicht aus Erinnerungen besteht, sondern aus einer bunten Verwirrung.
    Am ersten Weihnachtstag 1946 wurde seine Tochter geboren. Sie nannten sie Kaija, das Leben. Unser Christkind, sagte Martha, unsere kleine Partisanin, sagte Heiner, mit der wir eine neue Welt bauen. Im Krankenhaus war er der erste Mann, der bei der Geburt zuschauen wollte – er ertrug es nicht und rannte davon. Marthas Wehenschreie waren Todesschreie und ihr Blut das Blut der geschlagenen Kameraden. Als das Kind da war, und er nach einem Gefühl in sich suchte, war da keines. Er wollte es lieben, er gab sich Mühe, er küsste dem Baby die winzigen Finger. Die waren weich und zart aber eine geklaute Kartoffel zum Geburtstag in Auschwitz hatte ihn tiefer bewegt. Vielleicht hast du deine Gefühle verloren, sagte Martha – aber das stimmte nicht. Er hatte Gefühle. Sein Herz überschlug sich, wenn Kameraden aus dem Lager durch Österreich reisten. Dann war er nicht zu halten, er musste sie sehen. Martha hätte ihn am Tisch festbinden können, er wäre mit dem Tisch durch Wien gelaufen. Er wurde von Gefühlen überwältigt, wenn Post aus Polen kam. Weinend saß er über diesen Briefen, er las sie immer wieder – die ersten Worte seiner Tochter hörte er nicht.
    In Auschwitz hatte er nie im Traum geschrieen, in Wien musste Martha ihren schreienden Mann jede Nacht aus dem Lager befreien. Er roch im Traum den Qualm der Schornsteine, sprang aus dem Bett und hielt sich die Nase zu. Er keuchte vor Angst. Der alte Heiner, der die Faschisten aus Österreich vertreiben wollte, war ein zärtlicher Mann gewesen, charmant, witzig und intelligent, ein radikaler Dickschädel, der neue Heiner war ihr fremd. Nach fünf Jahren verlor Martha die Geduld. Dein Bett steht in Wien, sagte sie, verdammt noch mal, nicht im Block 21. Ich ertrage keinen Mann, der nachts seine Häftlingsnummer in die Dunkelheit schreit: 63.387.
    Sie hatten keine Freunde. Niemand wollte seine Geschichten hören und er konnte nicht aufhören, sie zu erzählen. Sie glaubten ihm nicht, dabei hatte er noch längst nicht alles erzählt. Sie sagten: Du übertreibst. Sie sagten: Das kann nicht wahr sein, das denkst du dir aus. Seine Mutter tippte sich an die Stirn: Du bist da oben nicht ganz richtig. Der Krieg war vorbei und alle wollten wieder lachen. Die einzigen Besucher, die gerne kamen und vor dem Morgengrauen nicht schlafen gingen, waren Gestalten wie Heiner. Hinter den gezeichneten Gesichtern schaurige

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