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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Erinnerungen. Mit den Kameraden konnte er lachen, sobald sie abgereist waren, schrie er im Schlaf. Martha drohte mit Trennung, wenn er nicht versuchte, sich von den Albträumen zu befreien. Sie gab ihm drei Jahre. Heiner lief von einem Therapeuten zum nächsten, er brach alle Therapien nach wenigen Wochen ab. Wie konnte er in Gesichter sprechen, die ihm nicht glaubten. Sie gaben ihm Pillen für die Nacht, von denen er die doppelte Dosis nahm. Es gab kein Medikament gegen seine Träume.
    Am längsten ertrug er die Couch von Viktor Frankl. Frankl war Wiener. Wie Heiner. Er war Häftling in Auschwitz gewesen. Wie Heiner. Er hatte seine Frau, seine Mutter und seinen Bruder verloren. Frankl war Sozialist. Wenn Frankl nicht helfen konnte, konnte niemand helfen. In Frankls Gesicht konnte er sprechen und wenn Frankl hinter ihm saß, fühlte es sich warm und solidarisch an. Heiner weinte auf der Couch, klagte sich an, verfluchte sich, weil er lebte und wusste, dass die Toten die besseren Menschen waren, weil sie auf Niemandes Kosten überlebt hatten. Bei Frankl konnte er über Hassphantasien reden – aber was half das? Er hatte nach hundert Stunden keinen Alptraum weniger. Er umarmte den Freund und ging nicht mehr hin. Martha reichte die Scheidung ein, es brach ihm das Herz aber er konnte nichts tun. Er war eine Last, er ging ohne Kampf. Er umarmte seine Tochter. Servus, mein schönes Kind. Er hätte gerne geweint aber er hatte für diesen Abschied keine Tränen. Das Kind sah ihn an, als spüre es, dass der schweigsame Vater nicht nur verreiste. Es schob ihm ein Foto in die Manteltasche. Er gab Martha die Hand. Herzele, was soll ich tun? Der Gang durch das Treppenhaus war ein Abstieg ohne Ende. Als er unten angekommen war, horchte er ins Treppenhaus. Martha schloss die Wohnungstür.
    Viele Jahre später begriff er, dass er auf Frankls Couch seine ganz persönliche Heiner-Therapie gefunden hatte: Freundschaft mit Auschwitz. Er adoptierte die Vergangenheit, machte sie zu seinem Zwillingsbruder, dem Schatten, der ihm auf die Straße folgte, ihn in den Supermarkt begleitete, neben ihm auf der Terrasse saß, ihm in die Nacht und in die Träume folgte. Treu bis in den Tod. Wer Heiners Freund sein wollte, bekam den Zwilling dazu. Die Heiner-Therapie hieß: Erinnern. Geschichten erzählen, sie um- und ausformulieren bis sie perfekt waren wie die arabischer Märchenerzähler. Für Martha und Kaija war das zu spät.
    Zwei Lieben darf ein Mann nicht verlieren. Bevor Heiner seine Wohnung auflöste, rief er Frankl an. Er hatte Glück, ohne es zu wissen. Frankl war Gastprofessor in Cambridge und für zwei Wochen in Wien. Hilf mir, Kamerad, sagte Heiner, ich habe mich schuldig gemacht.

Olga schüttet Mehl in die Schüssel, formt mit der Faust eine kleine Mulde, bröselt Hefe hinein und bedeckt die Kuhle mit lauwarmer Milch. Lenchen, sagt sie, streich mal das Backblech mit Butter ein. Wenn Lena in Danzig ist, gibt es am ersten Abend Piroggen, gefüllt mit kleingehackten Eiern, Zwiebeln, Hackfleisch und frischen Kräutern. Auch wenn zwischen Lenas Besuchen zwei-drei Jahre liegen, es gibt Piroggen und Olga bleibt Olga, ruhig und rund und egal, ob sie Besucher durch ihr Bernsteinmuseum führt, Vorträge hält oder Hefeteig knetet, Hektik und Unruhe scheinen sich nicht in ihre Nähe zu wagen. So wird man, denkt Lena, wenn man sich mit Spinnen und Insekten, Wanzen, Läusen, Asseln und Käfern beschäftigt, die vor Millionen Jahren von klebrigem Harz eingeschlossen wurden und in durchsichtigen Gräbern den ewigen Schlaf schlafen.
    Erzähl von ihm, Lenchen, sagt Olga und hackt Zwiebeln und Kräuter klein.
    Wenn er einen Bart hätte, sagt Lena, würde er am Tisch der Jünger nicht auffallen. Er hat braune Locken wie Philippus und hellblaue Augen. Er ist ein Mann, den ich jeden Tag anschauen und anfassen mag.
    Olga streut Mehl auf den Esstisch.
    Klingt gut.
    Olga schneidet den Teigklumpen in zwei Teile und rollt sie aus. Mit einem scharfen Messer sticht sie zweiundzwanzig Quadrate aus. Sie hat so oft Piroggen gemacht, dass sie über die Größe nicht nachdenken muss. Die Quadrate haben die Länge, die sie haben müssen: Zwölf Zentimeter. Die Ränder streicht Olga mit Eigelb ein. Sprich weiter, sagt sie, wo ist der Haken? Stottert er, hinkt er, ist er hundert?
    Fünfundvierzig und nicht gesund.
    Wo ist der Haken?
    Er war in Auschwitz.
    Na und?
    Ich kann es nicht ausdrücken, sagt Lena. Es ist ein Gefühl, für das mir die Worte fehlen.
    Gib’ dir

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