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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Mühe, Lenchen, sagt Olga, als sei sie noch immer Lenas Kinderfrau. Sie bestäubt die Hände mit Mehl und setzt auf jedes Quadrat ein Häufchen Hack, klappt die leere Hälfte darüber, so dass zweiundzwanzig Dreiecke auf dem Tisch liegen. Die Ränder drückt sie fest zusammen und setzt sie auf das eingefettete Blech. Ich hole Wein aus dem Keller, sagt Olga, du pinselst die Piroggen mit Eigelb ein und stichst sie mit der Gabel an. Und wenn ich wieder komme, erzählst du, was sich nicht ausdrücken lässt.
    Lena deckt den Tisch, wie es Olga liebt. Mit einer weißen Decke und dem Geschirr, das ihre Mutter während des Krieges im Keller versteckt hatte. Zwei Millionen Kubikmeter Schutt wurden aus der zerbombten Stadt geräumt, aber im Keller des kleinen Altstadthauses, in dem Olgas Familie lebte, hatten zwölf Teller, eingewickelt in alte Filzdecken, nicht den feinsten Riss. Wenn alles zerbombt ist, sagte Olga einmal, und zwölf Teller mit Goldrand in einem alten Haus den Krieg überstehen, dann ist das ein Zeichen. Für was, hatte Lena gefragt und Olga hatte ›für Glück im Leben‹ gesagt. Heute kann sie sich eine teure Wohnung in einem restaurierten Haus am Hafen leisten – aber dort war im Krieg kein Stein heil geblieben und das war kein Zeichen, dort auf das Glück im Leben zu warten. Olga lebt in der Altstadt im Haus ihrer Eltern.
    Lena schiebt das Blech in den Ofen und sagt, als Olga Gläser auf den Tisch stellt: Ich kann diese Liebe nicht in Worte fassen, lass es mich mit einem Bild versuchen. Stell dir vor, du kaufst ein neues Radio mit vielen Sendern und Programmen.
    Olga entkorkt den Wein.
    Hörst du zu?
    Olga gießt Wein in die Gläser. Weiter, Lenchen!
    Du schaltest dieses schöne, neue Radio ein, suchst einen Sender und was du hörst, klingt gut. Du suchst einen anderen Sender und stellst fest, dass dort dasselbe läuft. Du suchst und suchst und wunderst dich: Überall läuft dasselbe Programm.
    Ein gutes Programm ist besser als zehn öde.
    Stell dir vor, du liebst Verdi – willst du jeden Tag dieselbe Musik hören?
    Olga stößt ihr Glas gegen Lenas Glas – na zdrowie, Lenchen, Verdi hat mehr als dreißig Opern geschrieben.
    Und wenn ich sie alle kenne, singe ich mit – und dann?
    Olga schüttelt den Kopf. Lenchen, sagt sie streng, es gibt Zeitungen und Fernsehprogramme, du kannst Bücher lesen, Filme gucken, mit Menschen reden, du übersetzt Aufsätze und Romane, du musst doch nicht immerzu Radio hören!
    Der Mann, von dem ich rede, sagt Lena, heißt Heiner und nicht Verdi. Er besteht aus einem Leitmotiv mit endlosen Variationen. Was ich sagen will: Er sieht einen Backsteinschornstein und sagt: Schau, Lena, Birkenau. Er sieht dünnen, weißen Rauch aufsteigen und sagt: Sie haben dort nicht viel zu tun, sonst wäre der Rauch dick und schwarz. Weißt du, wie oft das Wort Rampe im Alltag vorkommt? Die Post hat eine Rampe, die Bahn hat eine Rampe, jedes Warenhaus hat eine Rampe und Heiner denkt nur an die eine. Du kaufst dir einen schönen Mantel und was sagt er: Schau. Lena, der Markenname ist Selection . Nichts ist ohne doppelten Boden und an jeder Ecke warten Erinnerungen.
    Und kannst du danach mit ihm über Teigtaschen reden?
    Ohne Probleme. Bis zur nächsten Begegnung mit einem verdächtigen Wort.
    Gut so, sagt Olga und zieht das Blech mit den dampfenden Piroggen aus dem Ofen.
    Ach, Olga, verstehst du, was ich meine?
    Na zdrowie, Lenchen. Morgen besuchen wir Onkel Amszel, dann reden wir weiter.
    Nach dem Frühstück füllt Olga einen Henkelmann mit heißer Suppe, legt Brot und Butter, ein Glas Honig, eine Kanne Tee, Würstchen und ein großes Stück Käse in den Korb, und als sie auf der Straße stehen, kehrt Olga noch einmal um und stellt eine Flasche Wodka dazu. Für die innere Wärme, sagt sie, er friert auch im Sommer.
    Olga hatte Onkel Amszel geerbt wie ein Möbelstück, mit dem sich niemand belasten will. Genau genommen hatte Olga nicht nur einen Menschen, sondern auch eine Wohnung geerbt, für die sich keiner interessierte und ein Haus, das niemandem gehörte. Es steht in einem Viertel der Altstadt, das nicht saniert worden ist und wird von Häusern gestützt, die ähnlich baufällig sind. Das Haus, vor dem sie stehen bleiben, hat vier Etagen und einen schiefen Schornstein, auf dem Dach fehlen Ziegel. Die Fenster sind blind. Olga zeigt auf ein Fenster im zweiten Stockwerk. Lena sieht einen verschmierten Kreis auf der Fensterscheibe, eine Art Ausguck. Olga winkt, obwohl sie nicht erkennen

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