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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Heiner ein Glas Wasser, er drückte ihn auf die Couch zurück. Sprich weiter, mein Freund.
    Wäre die Geschichte doch hier zuende, sagte Heiner, aber Pauls Sohn, der kleine Lassi, war auch im Lager und obwohl Besuche im Krankenbau verboten waren, hatte ich ihn ein paar Mal zu seinem Vater gelassen. Er wusste, wo er ihn finden konnte.
    Ich höre dir zu, Kamerad.
    Der Himmel war blau, schamlos blau, die schönsten Schneeflocken, die ich je gesehen hatte, setzten sich auf die Dächer, die Lagerstraße, sie deckten die Walze zu, überall, nur nicht hier würde man sagen: ein Tag wie im Märchen – aber hier war jede Schneeflocke, die zu diesem Bild beitrug, ein Hohn, weil unter diesem Himmel zwanzig nackte Männer über eine Rampe den Lastwagen bestiegen. Alles ging leise und friedlich vor sich, ein unheimliches Einvernehmen. Die Kapos mussten nicht schreien, die Männer wussten, dass sie verloren waren, sie wehrten sich nicht.
    Heiner richtete sich auf. Ihm war übel wie vor einem Brechanfall. Er schrie wie er damals hätte schreien sollen, aber stumm geblieben war. Er griff nach Frankls Hand.
    Was dann geschah, das hatte sich der Teufel ausgedacht: Plötzlich, wie vom Himmel geschneit, stand Lassi da, dieser magere Junge, der außerhalb des Lagers bei der Arbeit hätte sein müssen. Er erkannte seinen Vater und schrie: Vater, Vater, du gehst ins Gas, nimm mich mit.
    Heiner weinte. Frankl sagte: Lass dir Zeit, mein Freund.
    Ich kann es nur dir erzählen, sagte Heiner, nur du verstehst, was in mir so lebendig ist. Der Lastwagen fuhr an, der Junge rannte hinterher, hängte sich an die Klappe, und bevor der Kapo dem Jungen mit dem Knüppel auf die Hände schlagen konnte, bog einer der nackten Männer die Finger des Jungen kraftvoll und zärtlich zurück. Lassi fiel in den Schnee.
    ›Vater‹ gab es für Heiner nicht mehr. Wo immer er diesem Wort begegnete, hörte er den Schrei des Jungen: ›Vater, Vater, nimm mich mit‹.
    Frankl, sagte er leise, was bin ich für ein Mensch. Ein Leben opfern, um ein anderes zu retten, was für eine Scheißmoral.
    Sie schwiegen miteinander, sie waren im Lager, alle beide. Damals galten andere Gesetze, sagte Frankl, wir haben die nicht gemacht. Wir haben selektiert, das stimmt. Aber mit halben Toten lässt sich kein Widerstand machen, das stimmt auch. Es ging nicht um Liebe und Freundschaft, es ging um Leben und Tod.
    Frankl gab dem weinenden Freund eine Beruhigungsspritze. Er deckte ihn zu. Du wirst eine Weile schlafen, sagte er, danach geht es besser.
    Ich hätte kämpfen müssen für den Paul, sagte Heiner, ich habe mich schuldig gemacht.
    Die Umstände haben uns schuldig werden lassen, sie klag an.
    Bevor Heiner auf Frankls Couch einschlief, sagte er: Darf so einer wie ich eine Liebe haben?
    Ein Mann, der keine Frau hat, lebt ohne Freude, ohne Segen und ohne Güte.
    Als er aufwachte, wusste er nicht, ob Frankl den Talmudsatz wirklich gesagt hatte oder ob der schon zum Traum von einem Leben mit Lena gehörte.

Nur das Nötigste hatte Heiner von Wien nach Deutschland geschickt. Zweitausend Bücher, fünfzig Aktenordner, zehn Fotoalben, das Sofa, die Kuckucksuhr, eine neue Wolldecke, babyblau wie die aus Wien. Warum immer dieses Blau, fragte Lena, bist du der Farbe etwas schuldig? Kann man einer Farbe etwas schulden? Er hatte darüber nicht nachgedacht, er ersetzte die Decke, wenn sie dünn geworden war, durch eine neue in der gleichen Farbe, unter einer anderen Farbe fühlte er sich nicht wohl, wenn er fror, und er fror oft, auch im Sommer. Es war vierzig Grad minus, als sich unter den Kameraden herumsprach: Da sind blaue Decken aus Holland gekommen – als seien die alleine gereist.
    Heiner richtete das Wohnzimmer im Erdgeschoss ein und verwandelte es in die Höhle eines Eremiten. Vor der breiten Fensterfront hingen Gardinen und über den Gardinen Übergardinen. Wenn der Kuckuck achtmal rief, gab es in Heiners Höhle Nachrichten aus dem Fernsehapparat und Abendessen. Den Rest des Hauses richtete Lena ein. Vor weiße Wände stellte sie helle Möbel und in die Küche einen Herd mit sechs Flammen, weil zu Heiners Vorstellung von einem glücklichen Leben die Gewissheit gehörte, jederzeit Freunde mit einem üppigen Essen bewirten zu können. Die Küchenschränke reichten bis zur Decke, an den Wänden hingen Pfannen in allen Größen. Lena war die Köchin, Heiner putzte, deckte den Tisch, als wäre jede Mahlzeit die letzte Feier im Leben und wachte über die Vorräte. Er kaufte ein, als

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