Der Schrecken verliert sich vor Ort
Häftlingskrankenbau, Häftlingsnummer 63.140, Heiners Freund, einer von vier Überlebenden aus seinem Transport. Das Album mit den Bildern vom Hochzeitstag nahm Lena oft in die Hand. Sie konnte sich nicht satt sehen an dem eleganten Paar auf der Tanzfläche. Heiners Haare waren weiß geworden, sie fielen ihm noch immer lockig auf die Schultern. Er trug einen weißen Anzug und Lena ein langes, schwarzes Kleid. Mein schwarzer Schutzengel nannte er sie. Heiners Freunde kamen aus Österreich und Polen mit lustigen Liedern, Trinksprüchen und lautem Lachen. Heiner war ein hervorragender Gastgeber. Er passte auf, dass niemand einsam war, stellte jeden jedem vor, verknüpfte Lenas bunt gekleidete Freunde mit seinen Kameraden, so dass sie miteinander sprechen, tanzen und trinken konnten. Als sie das Fest mit einem Wiener Walzer eröffneten, klatschten Heiners Freunde Applaus, während Lena in den Augen ihrer Freunde Skepsis entdeckte. Sie sah die Fragen, die nicht ausgesprochen wurden: Was verbindet das Paar? Was ist sein Geheimnis? Liebt sie ihn oder tut er ihr Leid. Selbst Gesa, die Heiner kannte, hatte an einem der trauten Kinoabende gefragt: Was hast du an ihm? Sein Handkuss ist hinreißend, sein Charme betörend, er sieht gut aus, ist klug – aber mal ehrlich, Lena, geht dir nicht ein Mann auf den Wecker, der mit fünfundfünfzig Rentner ist?
Gute Frage. Heiner war Rentner und ein kranker Mann. Er hatte in Wien Druckerlehrlinge unterrichtet und wurde entlassen, weil er noch häufiger fehlte als sie die Schule schwänzten. Er fand Arbeit in der Buchhaltung eines Verlages und musste sich nach einem halben Jahr eingestehen, dass er keinen Achtstundentag aushielt, wenn er zwischendurch nicht schlafen durfte. Er versuchte es mit Kurzschlafphasen auf der Toilette, aber einmal eingeschlafen, wachte er so schnell nicht wieder auf. In Deutschland nahm er eine halbe Stelle an, die er gut schaffte, aber nach sechs Monaten entlassen wurde, weil er seine Arrestzeit in Wien nicht angegeben hatte und für den Unternehmer ein Betrüger war. Danach wollte Heiner Deutschland verlassen, sofort, hier kann ich nicht leben, sagte er, der Versuch ist gescheitert. Eine Woche kämpfte Lena mit ihrem Mann, dann gab er dem Land eine zweite Chance. Er wartete nicht auf die Kündigung, er schrieb sie selber. Wir trennen uns von Herrn Rosseck, weil er bei der Einstellung in unseren Betrieb seinen Aufenthalt im Gefängnis unterschlug. Wir arbeiten nicht mit ehemaligen Gefängnisinsassen zusammen, auch nicht mit Kommunisten, das hätte Herrn Rosseck bekannt sein müssen. Für den weiteren Lebensweg wünschen wir ihm alles Gute und viel Glück. Es war als böser Scherz gemeint, aber der Chef unterschrieb und Heiner hatte einen Beweis. Aber für was? Nicht dafür, dass in Deutschland alle so dachten – aber einer war einer zu viel. Er schrieb immer neue Bewerbungen. Meine besonderen Fähigkeiten sind Menschenführung, gute Allgemeinbildung, höfliche Umgangsformen, ich habe eine schöne Handschrift und besonders liegt mir das Maschineschreiben, ich schreibe schnell und fehlerfrei. Ich bin fleißig und ordentlich, vor allem ehrlich. Ich habe unter den Nazis im Gefängnis gesessen und war Häftling in Auschwitz. Zehn Bewerbungen, zehn Antworten. Sehr geehrter Herr Rosseck, wir bedauern, Ihnen absagen zu müssen, wir haben die Stelle firmenintern besetzt. Als Lena begriff, dass Heiner die Absagen provozierte, nahm sie seine Zukunft in die Hand, und dann ging es nur noch darum, die Papier- und Dokumentenschlachten auszuhalten, die beim Antrag auf Schwerkriegsbeschädigten-Rente auf sie einstürmten. Er fuhr nach Wien, verbrachte Stunden und Tage in Ämtern. Allen tat er leid, alle wollten ihm helfen, alle sagten: Mein Gott, Gestapohaft! Mein Gott, Auschwitz! Es galten nur Dokumente, die einen Stempel und eine Unterschrift trugen. Es dauerte ein Jahr, bis seine Haftzeit mit 224 Wochen anerkannt wurde. Er ließ sich von Amts- und Vertrauensärzten auf den Kopf stellen. Hüpfen Sie mal, beugen Sie den Rumpf, strampeln Sie auf dem Fahrrad. Er musste beweisen, dass er kein Simulant, kein Rentenerschleicher war. Im Lager hatte er Fleckfieber, Typhus und Tuberkulose überlebt, aber dort wurde man weder amtlich krank- noch amtlich gesundgeschrieben. Als Dauerleiden wurden ihm schließlich Durchblutungsstörungen bescheinigt, eine bleibende Herzschwäche nach zwei Infarkten, eine nicht behandelbare Körperschwäche, die zu Schüttelfrost führte,
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