Der Schrecken verliert sich vor Ort
ihm, bis er die Suppe gegessen hat. Sie trinken Wodka mit ihm. Olga sieht nach den Vorräten in der Speisekammer, Onkel Amszel bringt Lena einen Stiefelschaft aus weichem Leder.
Fass an, ist er schön?
Sehr schön.
Nimm ihn mit, mein Kind. Ich wusste, dass du kommst und Schuhe brauchst.
Olga packt den Henkelmann ein. Sie umarmt den alten Mann. Onkel Amszel, in zwei Tagen bin ich wieder da.
Lass es dir gut gehen, liebes Kind, sagt er und gib’ auf meine kleine Freundin acht. Er nimmt Lenas Hände und drückt auf beide einen Kuss.
Im Hof sagt Olga: Er hat Kinder versteckt. Man hat sie gefunden. Er hat das Ghetto als Schuster überlebt. Heulst du?
Lena streichelt den Lederschaft. Warum hast du mich hergebracht?
Ich dachte an Verdi und dass es mit den Lebenden schwerer ist als mit den Toten.
Ach, Olga.
Lena kennt niemanden, der sich so selbstverständlich als Teil der Erdgeschichte betrachtet wie Olga. Ihr Weg zur Forscherin begann mit einer Bernsteinkette, die ihr die Großmutter zur Kommunion um den Hals gelegt hatte – das war der Anfang einer Leidenschaft. Von der Großmutter erfuhr Olga, dass der Stein die Haut wärmt, Dämonen vertreibt, Hexen und Trolle verjagt und dass es vor Millionen Jahren einen verletzten Baum gegeben haben muss, der seine Wunde mit Harz geschlossen hatte. Den Rest des flüssigen Pflasters hatte er an seinem Stamm herabfließen lassen und damit sanft die Asseln, Spinnen, Käfer und Läuse zugedeckt, die zu seinen Füßen lebten – so wie die Flügelameise, die nun in Olgas Bernstein liegt wie in einem durchsichtigen Sarg. Wenn Licht auf diese Stelle fällt, funkelt der Stein rot wie die Ostsee bei Sonnenuntergang. So hatte Olga früh gelernt, was Ehrfurcht ist. Zwischen ihren Schlüsselbeinen lag ein Wesen aus dem Anfang der Welt und sie trug es in die Zukunft. Olga brauchte keine Religion, um sich im Universum nicht verloren zu fühlen. Wenn sie den Stein berührte, wusste sie, wo in der Schöpfung ihr Zuhause ist. Und dann erfuhr sie am Tag der Kommunion ein Wort, das sie bannte und ihren Lebensweg bestimmte: Grabgemeinschaft. Laus und Blatt, Wurm und Vogelfeder, Tannennadel und Spinnenbein konnten, ohne es zu wollen, Grabgemeinschaften bilden. Es war der Verlust der Olga mit der Bernsteinkette, die Lena nach der Trennung von Danzig schreien und beißen ließ, bis sie Olgas Sprache lernen durfte und Olgas Freundin wurde.
Wie bei jedem Besuch, zeigt Olga der Freundin die neuen Bernsteinfunde, deren Alter sie bestimmen muss. Kein Exemplar gleicht dem anderen. Sie sind weiß wie Milch, gelb wie Akazienhonig, rot wie Blut oder schwarzbraun wie die Erde auf dem Acker. Immer, wenn Lena zusieht, wie Olga in Zeiten abtaucht, die sie sich nicht einmal vorstellen kann, versteht sie die Gelassenheit der Freundin besser – nicht aber deren Umgang mit Schmerz. Drei Männer hatten Olga in den letzten Jahren verlassen und der letzte, von dem sie sagte, sie liebe ihn wie keinen zuvor, betrog sie und log. Olga hatte das ohne Tränen erzählt, auch ohne Wut. Ein Achselzucken und drei Worte: Vorbei ist vorbei.
Am letzten Abend sagt Lena: Du benutzt deine Bernsteinsärge wie Betäubungsmittel.
Und weiter?
Du nimmst deinen Kummer nicht ernst, sagt Lena. Dein Liebster belügt dich und du erstickst deine Trauer mit der ganzen Wucht der Erdgeschichte.
So ist es, sagt Olga ungerührt. Was ist ein Mann gegen einen Borkenkäfer, den ein verletzter Baum vor fünfzig Millionen Jahren durch einen Tropfen Harz unsterblich gemacht hat.
Ich weiß, sagt Lena. Mit den Toten ist es leichter als mit den Lebenden.
Als sie nach einer Woche Abschied nehmen, legt Olga der Freundin eine Kette mit einem Bernsteintropfen um den Hals. Gelb wie Akazienhonig mit Inklusen, wie eingeschlossene Tiere und Pflanzen in Olgas Sprache hießen, zarten Pflanzenfädchen, die der Volksmund ›Sternhaar‹ nennt und Olga ›Trichome‹.
Welcher Teil von mir soll helfen, fragte Victor Frankl. Brauchst du den Arzt, den Kameraden oder den Psychiater?
Ich brauche euch alle, sagte Heiner, aber auf die Couch lege ich mich nicht, an Worten kann man ersticken.
Wir machen es, wie du willst, sagte Frankl.
Am liebsten würde ich gehen.
Geh deinen Erinnerungen entgegen.
Drei Wochen nach dem Ende des Auschwitzprozesses überzeugte Viktor Frankl seinen Kameraden, sich aus therapeutischen Gründen doch noch einmal auf die Couch zu legen. Auf Heiners inständige Bitte, sich nicht hinter ihn zu setzen, weil von Menschen, die hinter ihm
Weitere Kostenlose Bücher