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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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stehen, sitzen oder gehen Gefahr drohe, schob Frankl seinen Sessel neben die Couch, so dass Heiner sein Gesicht sehen konnte.
    Mach dein Herz leicht, ich bin da.
    In der Wohnung war es still. Irgendwo tickte eine Uhr. Er hörte den Atem des Freundes und schloss die Augen. Er war schnell am Ziel, der Weg war nicht weit. Es muss im Winter ’43 gewesen sein, es schneite seit Stunden und Heiner war froh, dass er die Arbeit in der Schreibstube behalten hatte. Dort war es kalt und feucht, aber niemand erfror. An dem Tag, der nie aufhören würde, ihn zu quälen, sortierte er die Karteikarten der Häftlinge, die aus dem Nebenlager Monowitz, den Kohlengruben, in den Krankenbau eingeliefert worden waren. Er stieß auf einen vertrauten Namen. Czende. Paul, Häftlingsnummer 123.145. Sollte das der Freund sein, der Filmverleiher aus Wien, den er mit Martha zum Zug nach Budapest gebracht hatte. Er sah Lassi vor sich, Pauls Sohn, der fröhlich winkte, als führen sie in die Ferien. Heiner betrachtete die Karteikarte genau. Das Geburtsjahr stimmte, der letzte Wohnort war Wien, Zieglergasse, im siebten Bezirk. Er sah die Kreidestriche auf dem Boden, in dieser Wohnung hatte er mit Martha Lassi betreut.
    Aufgewühlt lief Heiner durch die Krankensäle, wie sollte er den Paul finden, wo doch in einem einzigen Saal achthundert Menschen lagen und keiner aussah wie er einmal ausgesehen hatte. Dort lagen Skelette, kahl geschorene, entstellte Fiebergesichter, die sich ähnlich waren wie Zwillinge. Heiner hoffte, er würde den Paul spüren, wenn er in seiner Nähe war. Trotzdem rief er: Paul, ich bin’s Heiner, der Heiner aus Wien. Er beugte sich über jeden Mann, der ihn auch nur entfernt an den Freund erinnerte, einen großen Mann mit buschigen Augenbrauen. Paul, rief er, ich bin’s, der Heiner aus Wien. Er wollte die Suche schon aufgeben, als er einen Mann mit weißen Augenbrauen entdeckte.
    Paul?
    Langsam wandte ihm der Mann das Gesicht zu.
    Paul, bist du das? Ich bin’s, der Heiner aus Wien.
    Paul Czende hatte Phlegmonen an den Beinen, das war schlimm, aber eine Katastrophe waren die Erfrierungen an den Händen. Die Finger waren schwarz, ohne Fleisch und ohne Nägel. Bleib ruhig liegen, sagte er, als ob sein Freund sich hätte wegbewegen können, ich hole den Häftlingsarzt, er ist ein Freund, ein prima Kerl, Dr. Steinberg, ein Jude aus Paris, der wird dich retten. Den Arzt flehte er an: Hilf ihm Doktor, er ist ein Freund, ein Kamerad, ein Jude aus Budapest.
    Das Ergebnis der Untersuchung war ein Schock. Erfrierungen dritten Grades waren nicht heilbar. Beide Hände mussten amputiert werden. Ein Mensch ohne Hände an diesem Ort, sagte der Arzt, du weißt, was das heißt. Jeder wusste das – hilf ihm trotzdem, sagte Heiner.
    Dr. Steinberg amputierte Paul die Hände und Heiner ließ bei den nächsten Selektionen Pauls Karteikarte verschwinden, damit niemand sehen konnte, wie lange Paul Czende schon im Krankenbau lag. Wenn Klehr die Säle inspizierte, versteckte er den Freund zwischen den Toten. Er tauschte sein Brot gegen Zigaretten und die Zigaretten gegen Medikamente. Wie lange willst du das machen, fragten die Genossen aus der Widerstandsgruppe, das mit dem Paul, das geht so nicht. Die Medikamente, die Zusatznahrung, du gibst dein Brot weg, wir riskieren unser Leben für einen Mann, für den es hier keine Arbeit gibt, und wer nicht arbeiten kann – du weißt, was das heißt.
    Heiner sprang von der Couch, sah Frankl an. Weißt du, was sie sagten? Der Aufwand, den wir für ihn trieben, sei zu groß, dafür könne man zwei oder drei Menschenleben retten. Heiner, sagten sie, der Paul ist nicht zu halten. Dem Tod näher als dem Leben, ohne Hände in Auschwitz, die Füße erfroren, in was für ein Arbeitskommando sollen wir ihn stecken – es gibt keines. Ja, sagte ich, das stimmt, aber er ist doch mein Freund. Sie sagten, das sei zu wenig für diesen Ort, jeder habe hier Freunde, man könne nur die retten, die für den Widerstand wichtig seien und dann sagten sie: Schluss mit dem Reden, stimmen wir ab. Außer mir waren alle dafür, den Paul fallen zu lassen. Ich hoffte auf ein Wunder. Sie verboten mir, den Paul zwischen den Leichen zu verstecken, und so war er bei der nächsten Selektion dran. Heiner sah Frankl an, als sähe er durch dessen Augen den Ort, an dem am nächsten Morgen der Lastwagen stand, um die Männer aufzuladen, die Klehr am Vortag mit seiner Spritze nicht mehr umbringen konnte, weil es zu viele waren.
    Frankl brachte

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