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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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drohe täglich eine Hungersnot.
    Ein großer Teil ihres Lebens bestand aus Ritualen, die ihm Sicherheit gaben. Abends sagte er: Begleite mich durch die Nacht. Noch nie hatte Lena mit einem Mann geschlafen, der in ihren Armen lag, als hätte er Angst, man könne sie rauben. Von ihrem Doppelbett benutzen sie nur eine Seite. Sie schliefen, wie in Wien und auch in Lenas alter Wohnung, bei sanftem, gelbem Licht, als würde ihnen die Abendsonne ihre letzten Strahlen überlassen. Das Paar war in der Nacht von Stille und Frieden umgeben. Wenn man Liebe sehen könnte, läge sie in diesem Bett.
    Sucht ist Sehnsucht nach Leben, sagte er und rauchte vierzig Zigaretten am Tag, ließ sich den ersten Kaffee ans Bett bringen, um wach zu werden und trank den letzten Becher, bevor er schlafen ging. Er hortete Bücher, weil er nicht aufhörte zu entdecken, was er von der Welt und den Menschen noch nicht wusste. Lena trug die Bücher in Heiners Zimmer zurück, wenn sie begannen, sich wie eine Ameisenstraße durch das Haus zu ziehen. Sie lagen im Flur, auf dem Rand der Badewanne, in der Küche neben den Töpfen, auf der Treppe zum ersten Stock und im Keller. Er las Sokrates und Seneca, Aristoteles, Nietzsche und Kant. Er liebte Brecht und Kafka, Rilke kannte er auswendig, sein liebstes Gedicht sagte er Lena manchmal vor dem Einschlafen auf wie ein Gute-Nacht-Gebet: Ich möchte jemanden einsingen, bei jemandem sitzen und sein. Ich möchte dich wiegen und kleinsingen, und begleiten schlafaus und schlafein. Ich möchte der Einzige sein im Haus, der wüsste: Die Nacht war kalt, und möchte horchen herein und hinaus in dich, in die Welt, in den Wald. ›Die Fackel‹ von Karl Krauss war zerlesen. Neue Bücher las er schneller als die Bücher, die er schon kannte, in denen er immer wieder nach Gedanken suchte, die er übersehen haben könnte. Canettis ›Masse und Macht‹ war seine Bibel. Er hatte viele Meter Faschismus und Krieg: Romane und Essays, Reportagen, Dokumentationen, Analysen. Die Erinnerungen der Opfer, die Notizen der Täter. Psychologie faszinierte ihn. Freud und Frankl, C. G. Jung, Erich Fromm, Melanie Klein, Alexander und Margarete Mitscherlich. In dem Aufsatz des ungarischen Psychoanalytikers Sandor Ferenczi zur Frage der ›Identifikation mit dem Aggressor als Methode, traumatisierende Gewalterfahrung zu überleben‹, war jedes Wort unterstrichen. Manchmal nahm er es nur aus dem Regal, um es zu streicheln. Für Heiner war das Buch lebendig, es war in Ungarn geschrieben worden und hatte Pauls Gesicht und Lassis Stimme. Vater, Vater, nimm mich mit.
    In seinen Büchern steckten grüne und rote, blaue, gelbe und weiße Zettelchen, und wenn bei offener Verandatür der Wind durch die Regale strich, sah es in der Bücherwand bunt aus wie auf einer Blumenwiese. Er war zufrieden mit der Siedlung, in der er lebte, aber mit Deutschland hatte er sich nicht ausgesöhnt. Männern seines Alters ging er aus dem Weg, Medikamente bestellte er in der Apotheke, die eine junge Frau eröffnet hatte, auch wenn er dafür eine halbe Stunde mit dem Auto fahren musste. Der Apotheker im Ort rauchte Pfeife. Wie Klehr, der mit dem Mundstück der Pfeife auf die nackten Männer gezeigt hatte. Der Zahnarzt hieß Dirlewanger, wie kann einer heute diesen Namen tragen. In der Ehe ging es ihm gut, aber Lena wusste nach fünf Jahren mit Heiner nicht mehr, wer sie war. Eine gut verdienende Dolmetscherin, eine gefragte Übersetzerin, eine Frau, die Menschen anzog – aber was noch? Ich bin nicht mehr einsfünfundsiebzig groß, sagte sie in der ersten Therapiestunde, noch ein paar Jahre und ich bin ein Zwerg. Ich lache nicht mehr in seiner Nähe, gegen seine Vergangenheit ist meine eine Kette von Banalitäten. Ich bin als Kind von der Schaukel gefallen und lag acht Wochen im Gipsbett – aber was ist meine Schaukel gegen die Schaukel vom Boger. Er ist ein Überlebender, während ich nur lebe. Manchmal möchte ich stundenlang über Lippenstifte und Nagellack reden und über Filme, in denen man vor Lachen Bauchweh bekommt – aber irgendetwas bremst mich, wenn er in der Nähe ist. Ich habe böse Phantasien. Ich möchte den Inhalt seines Senfglases im Garten vergraben und darauf Schnittlauch pflanzen. Oder Tomaten. Ich möchte seine Grabbeilage mit Sand vom Spielplatz füllen und mich über den Betrug freuen, wenn er es beim nächsten Mal einem Gast neben den Kuchenteller stellt. Schauen Sie, was mag das sein? Ich möchte über Kochrezepte reden …
    Warum tun Sie

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