Der Schrecken verliert sich vor Ort
kann, ob ein Gesicht dahinter ist.
Wie lange kennst du ihn, fragt Lena.
Drei Jahre.
Wie hast du ihn entdeckt?
Durch ein Geräusch, das nicht zu dieser Nacht gehörte. Ich kam von der Geburtstagsfeier einer Freundin. Es muss so gegen zwei gewesen sein und ich hatte Lust auf einen Spaziergang. Weißt du, ich liebe diese marode Gegend, sie erinnert mich an früher, ich habe hier als Kind gespielt. Ich muss die Musik schon eine ganze Weile gehört haben, aber irgendwann nahm ich sie bewusst wahr und blieb stehen – wobei Musik nicht das richtige Wort ist: da schlug jemand auf einem Klavier Töne an. Mal einen ganz schrillen Ton, mal einen tiefen, mal schnell hintereinander dieselben Töne. Zwischendurch war es still, dann ging es wieder von vorne los. Es war wie ein Rufen. Als schicke jemand Töne aus und warte auf Antwort.
Lena sieht sich um. Wo hast du gestanden?
Hier, sagt Olga, wo du jetzt stehst. Die Nacht war hell.
Hattest du keine Angst?
Olga lacht. Ich?
Sie hatte die Nazis überstanden, die Angriffe auf Danzig, die Russen, die Kommunisten, ihr Vorrat an Angst war verbraucht.
Die Töne kamen aus dem Haus dort, sagt Olga, und als ich die Quelle herausgefunden hatte, schien mir, als flackere im zweiten Stockwerk eine Kerze. Ich ging auf den Eingang zu, am Klingelbrett standen vier Namen übereinander, verblasst, verrottet aber noch lesbar: Szymerman S.
Szymerman P.
Szymerman A.
Szymerman M.
Du bist in diese Ruine gegangen?
Warum nicht? Mörder spielen nachts nicht Klavier.
Olga war die knarrenden Holzstufen hochgestiegen. Den Schalter für das Treppenhauslicht fand sie nicht oder es gab keinen. Sie hatte sich am wackligen Geländer festgehalten. Im Parterre und im ersten Stock waren die Wohnungstüren mit Latten vernagelt. Sie horchte. Die Töne waren verstummt. Hallo, rief sie, ist da jemand? Eine Weile war es still geblieben, dann hörte sie Schritte, dann war es wieder still. Hallo, rief sie, ist da jemand? Vorsichtig wurde die Tür im zweiten Stockwerk einen Spalt geöffnet. Im Schein der Kerze sah sie den runden Kopf eines Mannes. Er trug eine Kippah auf der Glatze und rief, als er sie sah: Kind, da bist du ja, du hast mich gefunden! Wo sind die anderen Kinder? Ich rufe euch in jeder Nacht.
Er war …?
Verrückt? Nenn es, wie du willst, ich habe ihn so geerbt.
Von wem?
Vom Krieg. Er war der einzige der Szymermans, der zurückgekommen ist. Die anderen Wohnungen sind leer geblieben.
Und was ist in der Nacht passiert?
Nichts. Er hat mir seinen Namen gesagt, Amszel, wir haben ein bisschen Wodka getrunken, ich habe versprochen, wiederzukommen – dann bin ich nach Hause spaziert.
Und dann?
Hab’ ich entdeckt, dass es eine Person geben musste, die ihm Essen brachte, sonst wäre er verhungert. Aber als dieser Mensch merkte, dass es noch jemanden gab, der ihn besuchte, mich nämlich, kam er nicht mehr. Ich war die Ablösung, mehr weiß ich nicht, wir sind uns nie begegnet. Seitdem koche ich für Onkel Amszel, pass auf, dass er es sauber hat und: Ich habe den Kampf gegen die Behörde gewonnen, die ihn zu den Irren stecken wollte. Ich habe das Klavier stimmen lassen – Olga lacht – die Töne, mit denen er nachts die Kinder ruft, klingen richtig gut.
Sie zieht die Treppenhaustür auf, ruft: Onkel Amszel, ich bin das, Olga. Ohne Angst vor morschen Stufen steigt sie in den zweiten Stock und klopft an die Tür und ruft noch einmal: Onkel Amszel, wir sind’s, die Kinder. Sie hören keine festen Schritte, was sich der Tür von innen nähert, ist eher ein leises Wischen wie das Gleiten mit Filzschuhen, ein Schlüsselbund klappert, dann wird die Tür langsam aufgezogen, vor ihnen steht ein gebeugter Mann, der Mühe hat, den Kopf zu heben. Er streckt ihnen beide Hände entgegen. Er strahlt sie an: Kommt zu mir, meine lieben Kinder.
Lena bleibt auf der Türschwelle stehen. Aus dem Schrank quillt Wäsche, auf dem Tisch, den Stühlen, dem Boden, dem Bett, dem Herd – überall stapeln sich vergilbte Zeitungen, aufgeschlagene Bücher und eine Unmenge halbfertiger Schuhe. Hacken, Absätze in jeder Höhe, Sohlen, Schäfte ohne Füße, braune Lederfetzen. Er war Schuhmacher, sagt Olga, die Wohnung war seine Werkstatt.
Olga macht auf dem Tisch Platz für einen Teller und ein Glas.
Er sieht Olga an und zeigt auf Lena: Hat das Kind meine Narben gesehen? Soll ich sie zeigen? Er beginnt, seine Strickjacke aufzuknöpfen.
Nein, Onkel Amszel, sagt Olga schnell, heute nicht, Lena kennt Narben.
Sie bleiben bei
Weitere Kostenlose Bücher