Der Schrecken verliert sich vor Ort
das nicht, fragte die Therapeutin.
Es ist obszön.
Wer sagt das?
Ich.
Lena verließ die Praxis mit Hausaufgaben wie ein Schulkind.
Ich schneide warme, festkochende Pellkartoffeln in mitteldicke Scheiben, erklärte sie der Kinofreundin Gesa im Beisein von Heiner, dann rühre ich eine Mischung aus zwei Eigelb, weißem Essig und Olivenöl darunter und dünste kleingehackte Schalotten in Gemüsebrühe weich. Meine Mutter hackte hart gekochte Eier in den Kartoffelsalat und meine Großmutter grüne Gurken und Radieschen.
Und was gab es dazu, fragte Gesa.
Frikadellen, goldbraun, Bratwürste oder Spiegeleier.
Wie hat ihr Mann reagiert, fragte die Therapeutin.
Er bekam Hunger. Abends hat er mich in den Arm genommen und gesagt: Schau, Lena, Auschwitz ist nicht der Feind vom Kartoffelsalat.
Nach dreißig Stunden auf der Couch trennte Lena ihre Kinderschaukel von der Bogerschaukel. Nach vierzig Stunden bat sie Gesa, den albernsten Film zu bestellen, der verliehen wurde, zwei Monate später gestand sie der Therapeutin, dass sie ohne Heiners ›Schau-Lena-Geschichten‹, die mit Schnupfen, Husten, Niesen oder einem Regenguss kommen konnten, mit dem Nebel, dem Wind, einem Wort, einer Wolke, dem Schrei eines Vogels, den ersten Schneeflocken oder einem Hirsch am Rand des Waldes, gar nicht leben möchte und in der letzten Therapiestunde sagte sie:
Er ist er und ich bin ich – wieso braucht man für diese Erkenntnis zweiundvierzig Stunden auf der Couch?
Als Lena wieder einen Meter fünfundsiebzig groß war, lebte sie in scheuer Distanz zu Heiners Fotoalben, in die er verwackelte, unscharfe Bilder geklebt hatte, heimlich von Häftlingen aufgenommen unter Lebensgefahr mit einer im Lager geklauten Kamera, Zeichnungen und Skizzen von den Tätern und ihren Opfern, Lageralltag, mit gestohlenen Bleistiften skizziert in einer freien Minute auf einem Fetzen Papier. Lena hatte in Heiners Abwesenheit die Alben aus dem Regal geholt und war das Gefühl nicht losgeworden, in die Intimität eines Tagebuches eingebrochen zu sein. Ich schäme mich für das, was ich dort sehe, sagte sie.
Schämen? Warum?
Lena sah sich auf dem Teppichboden vor Heiners Bücherwand sitzen und in den Alben blättern. Es gab eine grobkörnige Aufnahme von einem Mann am Galgen. Es gab das Foto von einem Häftling, den die Nazis auf der Flucht erschossen und zur Abschreckung in eine Schubkarre gesetzt hatten. Der Mann trug ein Schild um den Hals: Hurra, ich bin wieder da! Und dann diese Bleistiftzeichnung, die sie mit den Händen zudeckte, weil sie sie nicht ertrug.
Beschreiben Sie das Bild, sagte die Therapeutin.
Kann ich nicht.
Versuchen Sie es.
Das Bild tut mir weh.
Die Therapeutin schwieg. Lena lag auf der Couch und sah durch das Dachfenster die Wolken über den Himmel ziehen, die geduldigsten Begleiter, die sie sich für eine Therapie vorstellen konnte. Sie hatte die Zeichnung im Kopf.
Da liegt eine Frau auf dem Prügelbock.
Sie machte nach jedem Satz eine lange Pause.
Zwei Männer halten ihre Oberarme fest.
Die Arme sind dünn wie abgenagte Knochen.
Die Frau ist nackt.
Hinter ihr steht ein Mann in Uniform.
Der rechte Arm ist hochgerissen, er hält einen Knüppel in der Hand.
Er freut sich auf den Schlag. Man sieht das. Das Gesicht der Frau ist starr vor Angst oder Schmerz, man weiß nicht, wie oft er schon zugeschlagen hat.
Sie hat den Mund weit aufgerissen.
Der Körper der Frau ist so mager, dass man Angst hat, er könne zerbrechen.
Vielleicht wird sie die Tortur nicht überleben.
Daneben steht in Heiners Schrift: Meine arme, arme Zofia.
Er muss sie gekannt haben, sagte Lena, vielleicht sogar geliebt.
Die Therapeutin schwieg.
Ob er zuschauen musste?
Was löst der Satz in Ihnen aus?
Schmerz. Meine Haut brennt. Mir tut der Rücken weh.
Eifersucht?
Sind Sie verrückt? Lena setzte sich empört auf. Auf diese arme Frau? Das kann nicht sein!
Oder darf das nicht sein?
In der nächsten Therapiestunde sagte Lena: Ich werde nie eines Menschen Seele so tief berühren wie die Frau auf dem Prügelbock die Seele des Mannes berührte, der geschrieben hat: Meine arme, arme Zofia. Das ist doch traurig, nicht wahr?
Warum? Sein Glück sind Sie.
Schmerz verbindet tiefer als Glück.
Wer sagt das?
Das Bild.
Es gab Zeiten, da waren die Fragen drängend und Jahre, in denen Lena selbstbewusst Heiner, Senfglas und Halmaspiel ertrug. Ihren zehnten Hochzeitstag feierten sie auf Schloss Tulbing bei Wien, das dem Kameraden Salomon gehörte, Schreiber im
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