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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Arterienverschleiß in beiden Beinen, Verlust der Gallenblase und chronische Emphysem-Bronchitis, die zum Abbau der Lungenbläschen führte, zu Atemnot und Asthma. Sie rauchen zu viel, sagte der Amtsarzt, das sollten Sie lassen, dann kam der Bescheid: Der ›Grad der Minderung der Erwerbstätigkeit‹ betrug hundert Prozent und Heiner erhielt lebenslänglich vierzehn Mal im Jahr 410 Mark Haftentschädigung. Das waren zwei Mark pro Haftwoche, 28 Pfennige pro Hafttag, dazu vom Staat dreihundert Mark Rente, den Rest zum Leben verdiente Lena. Als ihr Vater starb, verkaufte sie das Haus in Zürich und bezahlte das Haus am Wald in der Siedlung, wo die Eltern, die Kinder und die Bäume jung waren.
    Gut, sagte Gesa, du hast einen kranken Mann geheiratet – wenn es kein Mitleid ist, erklär mir diese Liebe.
    Liebe kann man nicht erklären.
    Versuch es.
    Liebe, sagte Lena, ist wie Luft. Du siehst sie nicht, aber du atmest sie ein. Du kannst sie greifen und hast nichts in der Hand.
    Das ist wenig.
    Lieben ist Forschen. Wir wollen uns kennen lernen, aber das geht nur, wenn man Kennenlernen zulässt.
    Gesa sah ratlos aus.
    Er lässt mich in sein Leben, sagte Lena, er hat dort Platz für mich gemacht. Was immer er denkt, er denkt mich dazu. Wenn man Liebe beim Röntgen sehen könnte, wäre sie im ganzen Organismus verteilt wie Lungenbläschen in der Lunge.
    Lungenbläschen, mehr nicht?
    Gesa mochte Liebe im Film, Liebe im Leben war ihr zu anstrengend. Im Kino mochte sie Leidenschaft, Hass, Trennung, Versöhnung, im wirklichen Leben ging sie Männern aus dem Weg, die es ernst mit ihr meinten. Gesa liebte komplizierte Filme, aber komplizierte Beziehungen – und dazu zählte sie Heiners und Lenas Ehe – waren für sie unberechenbar wie Roulette. Streitet ihr nie?
    Sie stritten. Und wie. Es gab Streit um Dinge, die sich andere Paare nicht vorstellen konnten. Das Hochzeitsalbum war so ein Anlass. Heiner hatte es unten rechts neben die Alben mit den Fotos und Zeichnungen aus Auschwitz gestellt. Album zu Album, Fotos zu Fotos, damit man findet, was man sucht. So einfach war das. Nicht für Lena. Sobald sie an dem Regal vorbei ging, spürte sie ihren Magen. Sie versuchte, dem Gefühl auf die Schliche zu kommen, in dem sie bewusst vor dem Regal stehen blieb und auf die Alben sah. Als sich der Magendruck wiederholte, sagte sie, wie zu sich selbst: Eigenartig, ich versteh das nicht. Heiner saß auf dem Sofa und las.
    Was suchst du, Schatz?
    Nichts.
    Was verstehst du nicht?
    Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ich will nicht, dass es dort steht.
    Er verstand nicht, was sie meinte. Was darf dort nicht stehen?
    Das Hochzeitsalbum.
    Wo soll es sonst stehen?
    Woanders. Nicht dort.
    Er legte das Buch beiseite. Er sah sie ratlos an. Warum nicht?
    Es gehört dort nicht hin.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, was Lena mit ›dort‹ meinte.
    Die Fotos vom Hochzeitstag gehören zu meinem Leben, sagte er.
    Zu meinem auch.
    Und weiter?
    Es war die Schärfe in seinem Ton, die ihrem diffusen Unbehagen eine Richtung gab.
    Dort unten – sie zeigte auf das unterste Regal – dort unten wird unser zehnter Hochzeitstag zu einer Episode von Auschwitz.
    Sein Gesicht war vollkommen reglos. Er sah aus wie nach einem Schlag ins Gesicht. Dann sprang er mit einer Kraft vom Sofa auf, als hätte es Feuer gefangen. Seine Lippen zitterten. Was hast du gesagt, flüsterte er, in meinem Bücherschrank wird unsere Hochzeit eine Lagerepisode? Meine Alben sind ansteckend wie eine Krankheit, willst du das sagen?
    Ich habe das konkret nicht gedacht, aber wenn du es so sagst … Du meinst, seine Stimme klang zynisch, du meinst, dass sich die Personen der Alben vermischen, nachts, heimlich, wenn wir schlafen?
    Er sah durch Lena hindurch, als stelle er sich vor, was er gerade gesagt hatte. Er ließ sich auf das Sofa fallen.
    Du glaubst, sagte er langsam, jedes Wort betonend, du glaubst wirklich, der Klehr aus meinem Album fordert die Lena aus dem Hochzeitsalbum, wenn wir nicht hinschauen, zum Tanzen auf? Heiners Gesicht war weiß, sein Lachen klang hysterisch.
    Eher fordert er dich auf, sagte Lena, ihr kennt euch doch gut.
    Sie warf die Tür hinter sich zu. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und hörte Heiner schreien: Das Album bleibt hier!
    Sie öffnete die Tür und schrie: Du bist verrückt!
    Ich, rief er, wieso denn ich?
    Lena legte sich auf die Couch. Ihr Herz schlug wie nach fünfzig Kniebeugen. Sie atmete tief durch, dann holte sie eine Flasche Wein aus dem

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