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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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schwarz tanken und dort, wo es niemand beobachten konnte, mit Dollars bezahlen. Nachdem er die Scheine in die Hosentasche geschoben hatte, sagte er zu Heiner: Deutschmensch gut Mensch, Deutschmensch perfekt. Deutschmensch zurückkommen, durch Polen marschieren, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei-drei. Zackzack.
    Um Himmels Willen – warum?
    Jaruzelski kaputt machen, dann wieder raus, dalli, dalli.
    Verstehe, sagte Lena, Blitzkrieg, nicht wahr? Und zu Heiner, der sich hinters Steuer gesetzt hatte: Ich fahre.
    Du bist müde.
    Sie schob einen Riegel Schokolade in den Mund, Heiner kletterte auf den Beifahrersitz und rauchte. Öde Landschaft, er mochte sie. Ein Baum auf dem Acker, ein Strauch am Straßenrand, kleine Höfe mit einer Gans im Garten, unter vielen kleinen Dächern heilige Marien und endlich der Wegweiser: Oswiecim.
    Ich fürchte mich, sagte Lena.
    Keine Angst. Der Schrecken verliert sich vor Ort.
    Für wen?
    Touristenbusse verließen das Gelände, der Parkplatz vor dem Museum war fast leer. Während der Wagen noch rollte, stieß Heiner die Tür auf und sprang auf den Parkplatz. Lena fuhr nah an das Verwaltungsgebäude heran, hier wollten sie einen großen Teil der Kleidersäcke und Pakete abladen. Sie stellte den Motor aus, legte den Rückwärtsgang ein, setzte den sonnengelben Strohhut auf, puderte das Gesicht und malte sich die Lippen an. Sie hatte Hunger auf eine heiße Suppe und Lust auf ein Bier. Heiner lief mit ausgebreiteten Armen auf einen Mann mit weißen Haaren zu. Lena schloss den Wagen ab.
    Heiner wollte nicht ausruhen, nicht einmal Kaffee trinken. Er ließ den Koffer im Lastwagen, rauchte, war unruhig, trieb Lena an, er musste ins Lager. Schau, Lena, schau. Die roten Baracken des Stammlagers, die breite Lagerstraße, die hohen Bäume, die Abendsonne auf den Dächern, es hätte die Ankunft in einem netten Dorf sein können. Er betrat das Gelände durch das schmiedeeiserne Tor. Niemandem hätte er das kalte Fieber erklären können, das ihn überfiel, wenn er diesen Boden betrat. Er war hier zuhause. Alles musste er berühren wie nach einer langen Trennung. An keinen Ort der Welt wäre er je wieder so gefesselt wie an diesen. Die ersten Schritte auf dem Gelände – wie ein Gutsherr, der lange im Ausland war, Haus und Hof verpachtet hatte, zurück kommt und mit Kennerblick entlarvt, wie viel im Argen liegt. Schau Lena. Der Galgen. Damals war er geschmirgelt, gepflegt und blank geputzt worden, bis er in der Sonne glänzte wie Silber. Heiner kratzte mit dem Fingernagel über die raue Oberfläche: Rost. Das war nicht mehr sein Galgen, das war ein ungepflegtes Ausstellungsstück in einem Museum.
    Schau Lena, das Dach auf dem Küchengebäude. Verrottet. Die Meilensteine waren weg. Damals stand auf den Ziegeln in gestochen schönen, gotischen, leuchtend weißen Fraktur-Buchstaben: Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ordnung, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und: Liebe zum Vaterland. Wehe der armen Seele, die die Meilensteine nicht in fehlerfreiem Deutsch hersagen konnte, schau Lena, und nun haben Regen und Schnee, Hitze und Kälte die Meilensteine abgewaschen.
    Willst du, dass die Schrift erneuert wird?
    Unbedingt. Wie kannst du mein Auschwitz verstehen, wenn nichts mehr ist wie es war? Schau die Lagerstraße an! Die war blank wie ein Spiegel, kein Stäubchen, kein Körnchen Sand, man hätte von der Straße essen können. Häftlinge, in Riemen gespannt wie Ochsen vor dem Pflug, zogen von morgens bis abends die tonnenschwere Walze über diese Straße. Hin und zurück. Teer drauf, Walze drüber. Hin und zurück. Teer drauf, Walze drüber. Niemals wird er über diese Straßen schlurfen können wie die Touristen. Er hat gesehen, wie stolpernde Kameraden unter der Walze ihr Leben verloren und jetzt knirschte der Schotter unter den Schuhen, als ginge man über einen ungepflegten Wanderweg. Schau Lena, das ist Verrat an den Toten.
    Sie gingen nebeneinander, aber sie waren nicht mehr am selben Ort. Er sah nicht die junge Chinesin, die auf den Stufen vor Block 7 saß, zwischen die Knie eine Flasche Bier geklemmt. Er sah keine Touristen, keine Schulklasse. Er sah die hübschen Gärtchen vor den Blocks, die außer ihm niemand mehr sehen konnte. Künstlerisch gestaltet, akribisch gepflegt, jeder Grashalm stand stramm wie ein deutscher Soldat. In welchem Block lebte er damals, als die Kommission des Roten Kreuzes Auschwitz besuchte, um zu überprüfen, ob die

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