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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Unterkünfte sauber und gepflegt, die Häftlinge gesund und medizinisch gut versorgt seien und unter humaner Obhut stünden. War es Block 9 oder war er schon im Block 21? Egal, er hatte sich heimlich auf den Dachboden geschlichen. Was für eine irre Hoffnung mit diesem Besuch verbunden war. Sie werden alles sehen, alles. Die Läusebetten, die Rampe, die Schornsteine – sie werden der Welt berichten, was hier geschieht. Und dann kamen sie, die Abgesandten von jenseits des Stacheldrahts und bewunderten die Blumenrabatten und die schmiedeeisernen Lampen über den Türen der Blocks und ergötzten sich an Wandmalereien, zu denen die Kapos die Künstler unter den Häftlingen gezwungen hatten. Da gab es einen Rembrandt im Flur, einen van Dyck an der Wand – aber die dreißigtausend gestreiften Gespenster, die im Stammlager lebten, die sahen sie nicht. Die hatten Ausgehverbot oder wurden außerhalb des Lagers geschunden oder hatten sich, wie Heiner, illegal auf die Dachböden geschlichen, um Augenzeugen des Entsetzens zu sein, wenn ein Mitglied der Kommission spontan die Tür eines Blocks öffnete, der im Programm nicht vorgesehen war. Sie müssen es doch spüren, dachte er, warum spüren sie nicht die vielen Augen, die jeden Zentimeter ihrer Schritte verfolgen, warum spüren sie nicht das Herzklopfen der Häftlinge, als sich die Gruppe dem Kerkerblock der Gestapo nähert, warum hören sie die Gebete nicht, heißer wurde nie gebetet: Geht rein, geht rein, geht bitte rein. Als sie sich Block 28 näherten – lieber Gott, wenn es dich gibt, schick sie in den Keller, in dem sich die stinkenden Leichen bis an die Decke stapeln, weil die Öfen der Krematorien überlastet sind. Verdammt, lieber Gott, verdammt, warum bleiben sie jetzt stehen, warum lassen sie sich von den Nazis fortlocken zum geselligen Mittagessen. Lieber Gott, der Schlag soll sie treffen, bevor sie zuhause sagen können: Hübsch war es im fernen Polen. Das reinste Sanatorium.
    Heiner berührte einen Betonpfahl, fasste in den Stacheldrahtzaun. Er wischte mit dem Taschentuch über eine blinde Scheibe, drückte die Klinke von Block 21 nieder, seinem Block, dem HKB, dem Häftlingskrankenbau. Zärtlich strich er über die schwarze Todeswand zwischen Block zehn und elf, als könnte er mit der Berührung die Kameraden erreichen, die hier ermordet wurden. Unter humaner Obhut. Er sah nicht, dass Lena ihre Hände auf dem Rücken verknotete. Um keinen Preis hätte sie hier etwas anfassen mögen. Die Dinge waren nicht tot.
    Sie bezogen das reservierte Doppelzimmer im Lagerhotel. Heiner packte den Koffer aus, ging selbstverständlich, als habe er sein Urlaubsziel erreicht, über die knarrenden Dielen der ehemaligen SS-Baracke. Er freute sich auf das Abendessen. Er öffnete das Fenster und sah ins Lager. Die Angestellten hatten Feierabend, die Touristen waren mit den Bussen zum nächsten Reiseziel unterwegs. Er atmete die frische Luft ein und sagte: Hör Lena, wie schön die Vögel ihr Abendlied singen. Damals hat kein Vogel in Auschwitz gesungen. Über die Dächer der Blocks zogen zarte Nebelschleier. Heiner duschte und zog sich um. Schau, Lena, Auschwitz ist ein Ozean aus Geschichten und meine darin nicht mehr als ein Tropfen.
    Gegen zehn Uhr saßen sie allein in der großen Kantine. Die Gäste des Lagerhotels hatten den Speisesaal verlassen und Heiner sah nicht so aus, als wolle er aufstehen. Die Küchenhilfe wischte die Tische ab, die Putzfrau fegte den Boden, der Koch steckte die letzten Teller in die Spülmaschine und wünschte eine ruhige Nacht. Heiner bat die Küchenhilfe um ein frisches Glas und eine Flasche Bier.
    Geh ins Bett, Lena, du siehst müde aus.
    Und du?
    Er schabte mit dem Zeigefinger einen Suppenklecks vom Tisch. Es war dieselbe Bewegung, mit der er den Rost vom Galgen gekratzt hatte.
    Ich geh noch mal, sagte er.
    Ins Lager? Im Dunkeln?

Der Eingang und über dem Eingang die Schrift mit dem falschen ›b‹. Vierhunderttausend Quadratmeter vertrautes Gelände. Am Tag, wenn der Himmel blau ist und die Sonne scheint, sind die Wachtürme, der Galgen, der Stacheldraht Requisiten eines Museums, aber jetzt, wo der fahle Mond alles groß und unheimlich macht, ist er im Lager seiner schlimmen Träume, dort, wo er sich auskennt. Für Lena war es eine laue Nacht im Mai 1982, für Heiner ein eisiger Morgen im September vor vierzig Jahren. Sein erster Tag mit dem neuen Namen: 63.387.
    Er setzt sich auf die Steintreppe von Block 9. In diesem Block hatten sie die

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