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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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erste Nacht verbracht, zusammengetrieben wie Vieh, zu viert auf der verlausten Pritsche. Er horcht ins Lager. Durch die Bäume streicht der Wind. Still ist es hier, viel zu still, ein friedlicher Ort, durch den vor fünf Stunden noch Touristen geschlendert sind, Sonnenhüte auf dem Kopf, Bier- und Wasserflaschen in der Hand, friedliche Besucher, die sich Mühe geben, einen Hauch dessen zu spüren, was hier einmal war.
    Er springt auf, geht mit schnellen Schritten auf die Mitte der Lagerstraße zu, bleibt stehen, dreht sich abrupt um, reißt den Kopf hoch, schiebt die Brust vor, schlägt die Hacken zusammen, steht stramm und ruft seinen Namen: 63.387. Er reißt die Kappe vom Kopf, knallt sie an die Hosennaht, die Augen blicklos starr. Morgenappell um halb fünf. Vor ihm Häftlinge, hinter ihm, neben ihm, eintausend, zweitausend, zehntausend, er hat sie nicht gezählt, in dünnen Anzügen bei dreißig Grad unter Null. Er zeigt nach links, Richtung Ausgang, da nähert sich im Stechschritt Rapportführer Kaduk mit der Liste. Baut sich auf. Breitbeinig. Wichtig. Brüllt: Fünfhundert Mann zum Arbeitskommando Straßenbau! Abzählen! Sie zählen, Mann für Mann, von eins bis fünfhundert.
    Aufstellen in Zehnerreihen!
    Alle laufen und niemand weiß, wohin er gehört. Es entsteht ein wirres Durcheinander. Wie bildet man Zehnerreihen. Die Kapos wissen es. Sie schlagen auf die Männer ein, bis sie steif wie Zinnsoldaten stehen. Sie marschieren zum Lagertor hinaus – siehst du das, Lena? Die frierenden Häftlinge, die panische Angst vor dem Kerl mit der Liste. Steh auf Lena, komm her, stell dich neben mich.
    Lena bewegt sich nicht. Heiner, das ist nicht dein Ernst.
    Na los!
    Zögernd steht sie auf und stellt sich neben ihn. Das geht nicht, Heiner, sagt sie, ich kann deine Zeit hier nicht nachholen.
    Du musst dir Mühe geben!
    Heiner, ich war nicht dabei. Ich hatte keine Todesangst. Ich kenne nicht die Schmerzen von Knüppeln.
    Schau nach links, da steht der Kaduk.
    Für dich, Heiner, nicht für mich.
    Verdammt, warum nicht?
    Da stehen sie mitten in der Nacht im Lager und denken darüber nach, warum es unmöglich ist, Erinnerungen weiterzugeben wie ein Buch. Heiner ist verzweifelt.
    Was siehst du, wenn ich rede? Nichts? Du hörst nur Worte?
    Ich sehe Bilder, wenn du sprichst, aber nicht deine.
    Welche, wenn nicht meine?
    Ich sehe Bilder, die mein Kopf kennt, weil er sie irgendwo schon einmal gesehen hat, in Büchern, Filmen oder auf Fotos. Niemals werde ich deine Bilder sehen, ist das schlimm?
    Eine Katastrophe ist das.
    Sie nimmt seine Hand. Im letzten Schuljahr haben wir ›Dantons Tod‹ gespielt. Ich war Julie, seine Frau. Am Anfang des Stückes frage ich Danton: Glaubst du an mich? Danton sagt: Was weiß ich! Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken unsere Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam.
    Wenn sich schon Bilder nicht weitergeben lassen, wie ist es dann erst mit Geräuschen? Heiner hört Sirenen. Wie sie heulten, wenn ein Fluchtversuch entdeckt worden ist. Er hört Befehle, gebrüllt, gebellt aus Männerkehlen. Er hört tausend Holzpantinen auf Asphalt und die Musik des Lagerorchesters. Den Gesang der marschierenden Häftlinge, er hört die kläffenden Hunde, ihr erregtes Hecheln, bevor sie von der Leine gelassen wurden.
    Lena, was hörst du?
    Den Wind. Und dich. Du willst das tote Lager lebendig machen. Was suchst du hier?
    Den Häftling 63.387.
    Gibt es den noch? Was willst du von ihm?
    Aufpassen, dass er nicht stirbt.
    Du pflegst ihn, warum?
    Einmal hatte er sich in die lange Schlange der Menschen eingereiht, die für eine Eintrittskarte an der Lagerkasse standen. Meter für Meter rückte er geduldig weiter vor, einer unter vielen, nicht zu unterscheiden von dem normalen Museumsbesucher. Es war Sommer und Hochbetrieb, er stand eine Stunde, bis er die Kasse erreicht hatte. Als er gefragt wurde, wie viele Eintrittskarten er brauche oder ob er alleine sei, drehte er sich erschreckt um und lief davon. Er konnte keine Karte kaufen, unmöglich, er war kein Besucher. Für Häftlinge war der Eintritt frei, so sollte es bleiben.
    Sie setzen sich wieder auf die Stufen des Blocks. Es ist still im Lager. Die Vögel schlafen, irgendwo rascheln Ratten oder Mäuse. Es gibt Blocks, die seit Jahren nicht betreten worden sind, deren Wände hinter den Türen zusammenfallen. Heiner zündet sich eine Zigarette an. Er ist kein

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