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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Achtunddreißig Öfen. In wenigen Wochen wurden 438000 ungarische Juden umgebracht. Tadek sieht in die Trümmerreste des Krematoriums wie einer, der nicht glauben kann, was er gerade erzählt.
    Einmal hat er an diesem Ort einen der wenigen Überlebenden des Sonderkommandos sprechen hören – aber was heißt sprechen, Lena! Sprechen kann man das, was Henryk Mandelbaum hier machte, nicht nennen. Verwurzelt wie ein Bauer mit seinem Acker, so stand er in ›seinem‹ Krematorium. Was scherten ihn die Trümmerreste, die Schilder ›Betreten verboten‹, das hier war sein Leben, sein Ort, sein Arbeitsplatz, sein Martyrium, hier hatte ihm kein Schild etwas zu verbieten. Er erzählte drängend, ungeduldig, ohne Distanz. Er wartete nicht auf die Übersetzung, er war hier nicht in der Aula, er hielt keinen Vortrag. Er stand in der Gaskammer. Er sprach schnell, atemlos, polnisch mit deutschen Brocken, nahm die Worte, die sich anboten. Ab und zu hob er den Kopf, sah in das Gesicht eines Zuhörers und wenn er sagte ›verstehst du mich‹, dann war das keine Frage, sondern ein Befehl. Ich erklär dir meine Arbeit, verstehst du das! Er führte Frauen, Männer, Alte und Kinder dorthin, wo sie den harmlosen ›Duschraum‹ vermuteten. Er wiegte sie, bevor sie ins Gas geschickt wurden, in Sicherheit. Vertrauen zu schaffen, sie zu beruhigen, ihnen die Panik zu nehmen, das war seine Aufgabe und er spielte sie den Besuchern vor. Schaut zu, ihr Menschen!
    Er ging auf den ›Duschraum‹ zu, sah, fast liebevoll, zur Seite, als ginge neben ihm ein Mensch, auf den er einsprach, nahm dem unsichtbaren Kameraden Angst und Misstrauen. Komm Bruder, gehen wir den Weg zusammen, alles wird gut. Mandelbaum bückte sich und zeigte – wirklich, Lena – er zeigte den entsetzten Zuschauern, wie er die Toten anschließend mit viel Kraft aus der Gaskammer gezogen hatte. Sie waren verrenkt und miteinander verknotet, sie hatten sich in Panik aneinandergeklammert. Nichts ersparte er den Besuchern. Gar nichts. Er erklärte die Technik der effektivsten Verbrennung. Wie ein rasender Bagger grub er sich sprechend und gestikulierend die vielen Jahre zurück, bis er mit allen Fasern seines Lebens dort angekommen war, wo er jetzt wieder stand. Er schonte niemanden, am wenigsten sich selbst. Er wollte die Perversion des Wortes ›Arbeit‹ beweisen, indem er darauf bestand, dass auch diese Arbeit Fachwissen und Kompetenz brauchte und jeder, der hier arbeitete, ein Spezialist war. Er schrie den fassungslosen Leuten ins Gesicht, dass dicke Menschen besser brennen als dünne. Er zeigte ihnen, wie man eine gut brennbare Mischung herstellte, bückte sich, hob unsichtbare Leiber vom Boden, große und kleine, leichte und schwere und stapelte sie auf die Schlitten, die in die Öfen geschoben wurden. Er war eine unerhörte Zumutung, sagte Tadek, und ich stand da, sah ihm zu und ich heulte vor Wut, weil er rücksichtslos die Mauer zwischen damals und heute einriss. Niemand, der ihn erlebt hat, wird ihn je vergessen. Du trägst diesen Mann mit dir herum wie eine Bürde. Henryk Mandelbaum, sagt Tadek, war ein wilder, trauriger, starker, zutiefst verletzter Mensch.
    Als die Abendsonne das Gelände in ein leuchtendes Orange taucht, sehen sie die beiden Ungarn wieder. Zielstrebig, als habe er das von Anfang an vorgehabt, steigt der Sohn auf die Trümmerbrocken des Krematoriums. Der Vater filmt. Sie ziehen die Kippah aus der Tasche und setzen sie auf. Der Sohn dreht den Kopf dorthin, wo sie die Baracke des Vaters gesucht hatten, atmet ein paar Mal tief ein und aus, ruft dann mit kräftiger Stimme, jeder Silbe nachhorchend, die ersten Worte des Kaddischs: Jitgadal vejikadasch sch’mei rabah. Er stockt, sieht den Vater an. Ohne die Kamera aus der Hand zu legen, singt der ihm die Worte des Textes vor, die der Sohn nicht kennt und hier wiederholt, immer wieder, so lange, bis er die Hilfe des Vaters nicht mehr braucht. Die Stimmen der Ungarn begleiten Tadek und Lena bis zum Ausgang. Wenn ich mich damals nicht entschieden hätte zu bleiben, sagt Tadeusz Szymanski, dann in einem Augenblick wie diesem.
    Nach dem Spaziergang ist Lena Tadek nur noch einmal begegnet. Er rief an und fragte, ob sie Lust habe, mit einem müden Curd Jürgens Eis zu essen. Er war nicht mehr der kräftige Mann mit den weißen Haaren, er war schmal geworden und sah durchsichtig aus. Sie gingen denselben Weg am Main entlang, den Lena nach dem Prozess mit Heiner gegangen war.
    Sag Lena, wie ist das Leben mit einem

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