Der Schrecken verliert sich vor Ort
waren Handlanger der SS. Dass Nummern bedeutend sind, hatte Lena verstanden, aber nicht geahnt, dass sie sich an Heiners Seite ein bizarres Spezialwissen aneignen würde. Einmal gelernt, lasen sich die Häftlingsnummern wie Protokolle. Am 1. September 1939 war der Überfall auf Polen – am 14. Juni 1940 wurden die ersten politischen Häftlinge aus dem Gefängnis in Tarnow nach Auschwitz gebracht. Es waren junge Männer, fast noch Kinder. Sie bekamen die Nummern 31 bis 758, polnische Schüler, Studenten und Pfadfinder, die sich am Kampf gegen die Nazis beteiligt hatten. Immer wieder sagte Heiner voller Hochachtung: Schau Lena, er hat die 84. Er stellte sie einem Freund vor und sagte: Sprich mit ihm, er kann mehr erzählen als ich, er hat die 248. Häftlinge mit den Nummern elf- bis zwölftausend waren polnische Widerstandskämpfer, eingeliefert zwischen Juni 1940 und März 1941. Ab Beginn des Krieges gegen Russland schnellte die Zahl der Gefangenen hoch. Im Oktober 1941 wurden Nummern bis 25.000 vergeben, das waren russische Kriegsgefangene. Die Nummern der Männer aus dem Ghetto Tereszin, Theresienstadt, begannen bei 98.153 und die der Frauen bei 33.252. Die Nummern der griechischen Juden aus Saloniki begannen bei 116.000. Nummern über 180.000 beeindruckten Heiner nicht, das waren Anfänger, unterste Hierarchie, eingeliefert ein Jahr vor Kriegsende, da hatte er schon zwei Jahre hinter sich.
Tadek hatte drei Nummern. Er war Häftling 20.034 in Auschwitz, Häftling 77.236 in Groß Rosen, Häftling 128.031 in Buchenwald, er war mit vierundzwanzig Jahren nach Auschwitz gekommen. Er war Pole, weil seine Eltern Polen waren, obwohl es 1917, im Jahr seiner Geburt, auf der Landkarte kein Polen gab. Damals war seine Heimat die kaiserlich-königliche Monarchie Österreich-Ungarn und sein Dorf lag zwischen Bergen, die zu Bosnien gehörten. Frag ihn aus, sagt Heiner, er hat eine interessante Geschichte.
Frag ihn aus. Wenn das so einfach wäre. Lena ist mit einem ehemaligen Häftling verheiratet, aber Heiner erzählt ungefragt. Schau Lena – und schon beginnt die Geschichte. Auch Heiners Freunde warten nicht auf Fragen, sie sprechen, wenn ihnen danach zumute ist. Frag ihn aus – wonach? Wo anfangen, mit welchen Worten? Woher soll sie wissen, ob er an diesem Morgen gefragt werden will, auch mag sie nach der Nacht im Lager eher schweigen. Von Geschichten aus dem Lager hat sie vorläufig genug und Tadek sieht auch nicht so aus, als würde er auf Fragen von Lena warten. Die Hühner sind auch von hier, hatte er gesagt und genau gewusst, was ihr durch den Kopf spukte. Bleiben wir so direkt, denkt Lena und sagt: Weißt du, was ich dachte als ich dich gestern sah? Was macht denn Curd Jürgens in Auschwitz?
Der Vergleich gefällt ihm. Er hatte Curd Jürgens Mitte der siebziger Jahre in Wien im ›Jedermann‹ gesehen und war beeindruckt von seiner Kraft auf der Bühne. Ich werde das nie vergessen, sagt Tadek, die Stelle, an der die Frauenstimme ihn ruft: Jeeeeeedermaaaann. Und so kommen sie über Jedermann, Gott, den Tod und den Teufel langsam, als führe ein direkter Weg dorthin, auf Tadeks Geschichte.
Er war nach der Befreiung des Lagers mit einem Schwur nach Hause gefahren. Nie wieder wollte er einen Fuß auf dieses verfluchte Gelände setzen. Zuhause traf er Menschen, die ihn misstrauisch anschauten: Wieso lebst du noch, fragten sie, wir dachten, aus Auschwitz gäbe es nur einen Weg in die Freiheit, den durch den Schornstein. Ihre Augen fragten: Was hast du getan? Warst du der Büttel der Nazis? Auf wessen Kosten hast du überlebt? Wenn sie doch direkt gefragt hätten. Heimliche Blicke waren ihm zuwider.
Zwölf Monate später stieg er auf dem Rückweg von einer Kur für ehemalige Häftlinge dort aus, wohin er nie wieder wollte. Es war Neugier. Nur schnell mal sehen, was übriggeblieben war und dann: Fort für immer. Aber das Lager war nicht, wie er dachte, menschenleer, Baca, der Freund, mit dem er einen Todesmarsch und eine tollkühne Flucht überstanden hatte, begrüßte ihn. Baca sagte: Ich bleibe hier. Baca sagte: Willst du uns helfen? Baca sagte: Wir verwandeln den größten Friedhof der Welt in ein Mahnmal.
Da warst du sicher begeistert, sagt Lena.
Und ob. Es war ja nur der Vorschlag, mir eine Wohnung in meinen Alpträumen einzurichten.
Nachts stand er im Schlafanzug am offenen Fenster. Die Luft war eisig, es regnete, typischer für diese Gegend konnte das Wetter nicht sein. Er legte sich ins Bett, fand keinen Schlaf,
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