Der Schrecken verliert sich vor Ort
von uns?
Wie soll es sein? Es ist, als liebtest du einen Sänger, der nicht aufhören kann, sein Lebenslied zu singen. Er singt es morgens, er singt es mittags und nachmittags, abends und nachts. Es hat viele Strophen. Du musst es mögen, sonst wirst du verrückt.
Tadek lachte. Es gibt einen Trost. Eines Tages vergisst der Sänger sein Lebenslied, dann hört er auf zu singen. Es klang wie ein Geständnis, als er ihr anvertraute, dass er im Alltag des Museumsbetriebes sein Gedächtnis für Geräusche verloren hatte. In Birkenau war es laut, sagte er, es summte und brummte wie tausend eingesperrte Fliegen in einem engen Glas. Wenn ich jetzt durch Birkenau gehe, höre ich den Wind, die Krähen, die Stimmen der Besucher, aber nicht mehr das Lager.
Er blieb stehen, sah auf den Main, hörte dem Tuckern eines Schleppers zu und den ans Ufer schlagenden Wellen. Er legte seinen Arm um Lena. Mich haben die Geräusche verlassen und mit den Geräuschen die Bilder. Sie sind blass geworden, ich erkenne sie nicht mehr. Ich sehe in Birkenau, was jeder Besucher sieht. Schornsteine. Baracken. Mauerreste. Meine Geschichte hat sich aufgelöst.
Kannst du ohne sie leben?
Nein. Es ist Zeit, die Welt zu verlassen.
Er sah so traurig aus, dass Lena kein besserer Trost einfiel, als ihn lange zu küssen.
Gegen die alte ›Tante Angst‹ war Heiner machtlos. Sie flüsterte ihm bei jedem Abschied ins Ohr: Es ist für immer. Er verweigerte Abschiede. Er wollte einfach gehen, ohne Kuss, ohne Umarmung, ohne Winken, ohne sich noch einmal umzudrehen. In der wehmütigen Geste des letzten Blickes schien ihm die heimliche Sorge zu liegen, sich niemals wiederzusehen. ›Pass auf dich auf‹ war ihm zuwider, komm zurück, bleib gesund, bis gleich, bis morgen, bis nächste Woche, nächstes Jahr, bis Weihnachten, Ostern, bis zum nächsten Geburtstag, geh mit Gott, der Herr beschütze dich – nein, nichts davon, einfach die Tür zuschlagen und gehen. Der Tod ist ein Zwilling des Augenblicks, auch des Augenblicks, in dem man Abschied nimmt. Er wollte Tadek an diesem Morgen nicht umarmen, nichts versprechen, nichts verabreden, um den Gedanken der endgültigen Trennung nicht aufkommen zu lassen. Er kletterte in den LKW, warf keinen Blick zurück auf das Lager und den Freund, der im Eingang stand. Nicht nur große, auch kleine Abschiede waren ihm verhasst. Der Tod war überall, auf der Straße, im Flugzeug, er konnte als Ziegel vom Dach fallen und im Supermarkt warten, während er die Hand nach seinen Lieblingsgurken ausstreckte. Kein Abschied – kein Gedanke an den Tod. Ist der Gute-Nacht-Kuss kein Abschied, fragte Lena, das Gedicht zur Nacht, macht dir das keine Angst? Manche holt der Tod im Schlaf. Auf den Kuss wollte er nicht verzichten, nicht auf das Gedicht zur Nacht. Wenn ich mich an dich klammere, sagte er, sind wir ein Wesen mit zwei Köpfen und an so ein Monster traut sich der Tod nicht heran, frag Leszek.
Nebel stand am Morgen des Abschieds gelblich-weiß auf der Landstraße, als wären ihnen nachts die Milchpulverpakete von der Rampe gerutscht. Ich sehe die Wipfel der Bäume, sagte Lena – wo mag die Straße sein? Irgendwo dazwischen, sagte Heiner, stopfte sich die Jacke in den Nacken, schloss die Augen, um den winkenden Tadek nicht zu sehen, während Lena ›Czerwony‹, den ›Roten‹, gut gelaunt vom Parkplatz steuerte und winkte und ›na razie‹ rief, bis bald. Lena liebte Zeiten, die von ihr verlangten, etwas Neues zu wagen. Wie an diesem Morgen, an dem sie einen Lastwagen durch eine Nebelwand steuerte, die hinter Oswiecim dick wie Grießbrei wurde. Bleibt hier, hatte Tadek gesagt, wartet auf schönes Wetter, aber Lena wollte beweisen, dass sie nicht nur bei Sonnenschein fahren konnte. Du hättest Auschwitz auch überlebt, sagte Heiner und schlief ein.
Nach zwei Stunden war der Nebel gestiegen. Sie sah keine Baumwipfel und keinen Himmel, dafür die Straße, Straßengräben und Häuser ohne Dächer. Als Heiner am Stadtrand von Krakau noch immer schlief, rüttelte sie ihn wach. Erzähl, wen werden wir treffen? Er gähnte. Erst Kosta, dann Mietek, das sind feine Kerle und gute Kameraden. Lena hatte nichts anderes erwartet.
In Krakau gab es achthundert Überlebende und für die dreißig, denen es sehr schlecht ging, hatte Heiner besonders gekennzeichnete Pakete gepackt. Sie enthielten neben Lebensmitteln und Medikamenten Schals und Mützen, Mäntel, Handschuhe, warme Pullover und Schuhe. Das Vereinshaus der Überlebenden war ein
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