Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
Vom Netzwerk:
wieder versucht, Menschen zu retten, die nicht zu retten waren. Gegen eine Todesmaschine kämpft man nicht mit dem Herzen, hatte der Adler gesagt. Heiner wärmte die Hände am Kaffeebecher. Er suchte nach Untertönen. Vielleicht spielte der Adler den Hundertprozentigen, weil er wusste, dass er abgehört wird – aber dann hätten sie sich im Café treffen können. Kostas Hände lagen bewegungslos auf dem Tisch, er ließ sich von ihnen beim Reden nicht helfen, auch nicht widersprechen. Es gab in seinen Augen keine Ironie, er meinte, was er sagte. Heiner warf Lena einen schnellen Blick zu. Sie rührte in ihrem Becher, der Löffel schlug gegen den Rand, der Kaffee fuhr Karussell. Heiner begann, die Risse in der Tischplatte nachzuzeichnen. Waren sie in Auschwitz Freunde gewesen? Oder nur Genossen? Aber das war doch dasselbe. Warum war keine Wärme in den Augen des Freundes. Kein Signal: Du und ich, weißt du noch, erinnerst du dich? Der Adler redete wie zu Touristen aus dem Westen, als habe es nie eine gemeinsame Vergangenheit gegeben.
    Die jungen Leute auf den Barrikaden, sagte der Adler, seien Randalierer, bestenfalls Träumer, eher aber Verführte, dumme Revoluzzer, politische Chaoten, vom kapitalistischen Ausland Verführte. Heiner hob den Kopf, er hielt die Kälte zwischen ihnen nicht länger aus. Ach, Kosta, sagte er und es klang rührend wie ein Herzenswunsch, reden wir nicht über Politik. Wie geht es dir, mein Freund, bist du gesund? Ich möchte doch nur wissen, ob du glücklich bist. Der Adler referierte weiter. Heiner senkte die Augen und strich wieder über die Risse des Tisches. Ja, sie alle waren Stalinisten gewesen, aber waren sie nicht klüger geworden, hatten ihnen die sibirischen Gulags nicht die Träume von einem menschlichen Kommunismus zerschlagen? Zwei Mal hatte ihm der Adler geholfen, Paul Szende, den ungarischen Freund, an der Selektion vorbeizuschummeln. Er hatte Pauls Sohn Lassi vor dem sicheren Tod bewahrt, als der Junge vor Verzweiflung über den abtransportierten Vater auf der Lagerstraße tobte wie ein Verrückter. Vater, Vater, nimm mich mit. Er hatte den Jungen angebrüllt wie der übelste Kapo und ihn, als das nicht half, ins Gesicht geschlagen und in den nächsten Block geschleift, bevor ein entnervter SS-Mann sagen konnte: Steig auf, mein Junge, darfst mit deinem Vater fahren.
    Wenn man die Randalierer nicht mit aller Härte niederschlägt, sagte Kosta, wenn man die eingeschleusten Agenten und Spione nicht schnellstmöglichst enttarnt und vernichtet, dann stürzt das Land in den Abgrund.
    Lena hörte nicht mehr zu. Sie stand in einem Musikzimmer, hörte das Knistern im Radio, die sanfte Frauenstimme: Meine Lieben, wir sind glücklich und bewegt, wenn wir zu euch sprechen können … wir sehen euch vor den Radios sitzen und unsere Worte aus den Lautsprechern hören, die Worte, die man verhaften wollte … in eure Wohnungen kommen wir, euch Trost zu bringen … Solidarność lebt, Solidarność wird leben … meine Lieben, heben wir die Köpfe, die Zukunft gehört uns.
    Ohne ihren Mann anzusehen, sagte Lena auf Polnisch: Stalin ist tot, Genosse Kosta. Schau deinem Freund ins Gesicht. Siehst du, wie er aussieht? Der Adler starrte sie verblüfft an. Sie sah, was er dachte: Die dreiste Deutsche, wieso spricht die Polnisch? Er sah von Heiner zu Lena, war aus dem Konzept gebracht und stand auf. Heiner rührte sich nicht. Er klammerte sich an die Tasse und suchte nach Worten, er wollte den Freund beschwichtigen. Der Adler schob seinen Stuhl unter den Tisch, legte Heiner kurz die Hand auf die Schulter als bedaure er ihn für die freche Frau. Er verließ den Raum betont langsam und unheimlich leise.
    Lena, um Himmels Willen, was hast du gesagt?
    Er soll nett zu dir sein.
    Kommt er wieder?
    Ich glaube nicht.
    Warum nicht?
    Er ist kein netter Mensch.
    Immer wieder haben sie während der Fahrt durch Polen über das Treffen mit dem Adler gestritten. Heiner war wütend, es stand seiner Frau nicht zu, einen Freund zu verprellen. Sie hatte gegen die eiserne Regel verstoßen: Keine Kritik an Kosta, keine an Leszek, keine Kritik an irgendeinem Kameraden, der seinen Wert als Mensch für alle Zeiten durch selbstlosen Mut bewiesen hatte. Verstehe, sagte Lena, aber muss ich mir den Bockmist deines Genossen anhören, nur weil er in Auschwitz war?
    Was sagst du da?
    Das ›Nur‹ empörte ihn. Das hörte sich an, als habe sein Freund dort Ferien gemacht. Heiners letzter Satz nach jeder Auseinandersetzung war

Weitere Kostenlose Bücher