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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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flacher Bau im Innenhof eines alten Fachwerkhauses. Mit Schwung fuhr Lena auf die schmale Durchfahrt zu, hörte das grelle Kreischen des Blechs, fuhr trotzdem weiter und hielt erst vor dem Vereinshaus an. Heiner stieß einen nicht enden wollenden Schrei aus, sprang vom Sitz auf den Hof, fuhr wie ein Besessener mit den Händen über die Schrammen, als könne er sie beseitigen. Sein Gesicht war weiß. Seine Augen waren weit aufgerissen und panisch. Lena versuchte, ihn zu beruhigen. Reg dich nicht auf, Schatz, ich bezahle den Schaden. Er hörte sie nicht. Seine Hände zitterten. Komm zu dir, sagte sie, wir sind nicht explodiert, wir liegen nicht im Graben, keiner ist verletzt, niemand ist tot. Er jammerte, weinte, sah sie nicht an, rieb über die Schrammen, als seien es Wunden. Heiner, schrie sie und schüttelte ihn, es sind nur Kratzer im Blech. Im Blech, hörst du? Er reagierte nicht. Lena packte seine Hände und zog ihn wie ein verstocktes Kind durch den Hof und drückte ihn auf die Bank unter der großen Kastanie. Sie setzte sich auf seinen Schoß und hielt ihn fest umschlungen bis das Zittern weniger wurde.
    Heiner, was ist los?
    Nichts.
    Gleichgültig sah er dem Ausladen der Pakete zu. Soll ich den Arzt holen, fragte der Hausmeister. Heiner schüttelte den Kopf.
    Ein Glas Wasser?
    Er nickte.
    Der Wagen war längst wieder verschnürt, die Helfer nach Hause gegangen, das Vereinshaus geschlossen bis zum Treffen mit Kosta. Sie blieben unter der Kastanie sitzen, Lena irritiert, Heiner erschöpft, als hätte er hundert Pakete alleine getragen. Als seine Hände wieder warm waren, putzte er sich die Nase und sagte, als habe er einen harmlosen Fieberschub überstanden: Gehen wir Kuchen essen im Café Florian, was meinst du?
    Vor allem sagen wir das Treffen mit Kosta ab.
    Falscher hätte kein Vorschlag sein können. Er freute sich unbändig auf diesen Mann. Kosta war sein Freund, ein hohes Tier im Schriftstellerverband, er hatte zum Lagerwiderstand gehört, sie hatten ihn ›Adler‹ genannt. Bevor sie das Café verließen, sagte Heiner: Sei nett zu ihm, Lena, er hat es verdient.
    Warum sollte ich nicht nett sein?
    Er ist nicht einfach.
    Du auch nicht, sagte Lena.
    Kosta war ein kräftiger Mann, größer als Heiner. Er stand vor dem Vereinshaus wie eine Säule, schlug Heiner zur Begrüßung mehrmals auf die Schulter, küsste Lena die Hand, sah sie flüchtig, ohne Neugier an. Er führte sie in einen grün gestrichenen Sitzungsraum ohne Bilder, ohne Bücher, ohne Teppich, öde wie ein leeres Aquarium. Unter ihren Stimmen lag ein Hall, der dem Beisammensein etwas Künstliches gab.
    Der Tisch war lang, die Stühle standen weit auseinander. Der Adler nahm am Kopfende Platz wie der Leiter einer Diskussion. Ihm am nächsten saß Heiner, zwischen Lena und Heiner waren drei Stühle frei. Er sei glücklich, sagte Heiner, dass sie der Freund über die aktuelle Lage in Polen informieren wolle, niemand könne das besser als ein Kamerad in seiner Position. Ein junger Mann stellte Nescafé und heißes Wasser auf den Tisch, Lena bat um Zucker und Milch. Er brachte Zucker, Milch gab es nicht. Als vor jedem ein Becher mit Kaffee stand, begann der Adler mit einem Referat, als säßen vor ihm nicht zwei, sondern zweihundert Menschen. Heiner schien das nicht zu stören, geduldig akzeptierte er ein Wiedersehen, das förmlicher verlief, als er es sich vorgestellt hatte.
    Kostas erster Satz hieß: Ich hasse den Krieg. Sein Deutsch war perfekt. Schon im zweiten Satz verteidigte er das Kriegsrecht als das einzig Richtige, was Jaruzelski in der Situation hätte tun können. Die Situation war, wie er sagte, die Mitgliederexplosion der Gewerkschaft Solidarność, die auf dem hochgefährlichen Weg sei, sich mit einer Partei zu verwechseln. Das Ergebnis sei Chaos und Sittenverfall, zu beobachten in jeder polnischen Stadt an jeder Straßenecke, auf allen Plätzen. Das war fast wörtlich Jaruzelskis Fernsehrede, auch die Drohung, die Russen würden die polnischen Verhältnisse zum Vorwand für einen Einmarsch nehmen wie in Prag, ließ er nicht aus.
    Heiner starrte in den Kaffeebecher. Sein Freund auf der Seite von Jaruzelski – wie war das möglich? Sie hatten ihn Adler genannt, weil er einen mächtigen, kahlen Schädel hatte, eine spitze Nase und kleine, scharfe Augen. Er war nicht die Seele des Lagerwiderstands, aber der Kopf und das Rückgrat, und darauf kam es an. Hätte Heiner die Entscheidungen treffen müssen, die der Adler traf, hätte er immer

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