Der Schrecken verliert sich vor Ort
Hände auf den Rücken und geht mit den gleichmäßigen Schritten eines Wanderers drei Kilometer vom Stammlager nach Birkenau. Lena an seiner Seite. Als er auf dem schmalen Fußweg der Brücke, die über die Sola führt, voraus geht, weiß sie, woran sie Heiner und seine Freunde erkennen kann. Sie sind von Verlorenheit umgeben wie von einem unsichtbaren Cape. Es umgab den Zeugen aus Wien, als er im Gerichtsflur in die Knie ging. Es umgibt Tadek, während er vor ihr über die Brücke geht.
Nach dem großen Tor hält Tadeusz inne, als beträte er einen Dom. Dem Mann, der jeden Stein auf dem Gelände kennt, wird beim Anblick dieser Landschaft immer noch flau. Baracken bis zum Horizont. Wo sie verfallen oder weggeräumt worden sind, wo nur noch die nackten, roten Kamine in den Himmel ragen, denkt sich der Kopf den Rest dazu. Eine Million Quadratmeter. Eine Sklavenlandschaft. Flach. Öde. Maßlos. Sie hört nicht einmal dort auf, wo Himmel und Erde zusammenstoßen. Die Sonne wärmt. Es riecht nach Gras. Auf den roten Kaminen sitzen Krähen und dösen.
Lena passt sich Tadeks Schritten an. Wenn er schnell geht, geht sie schnell, bleibt stehen, wenn er stehen bleibt, versucht zu sehen, was Tadek sieht und weiß, dass ihr das nie gelingen wird. Sie sind allein in Birkenau bis auf zwei Männer, die ungewöhnlich schnell durch das Gelände streifen. Jeder hält eine Videokamera in der Hand. Sie filmen die Wege, die Schienen, die Baracken, sie schwenken die Kameras in den Himmel, gleiten mit den Suchern an den Schornsteinen entlang, dem Stacheldraht, fangen auch Tadek und Lena ein. Zwei dicke Männer mit runden Köpfen. Die Hemden offen, man sieht die Haare auf den Bäuchen. Sie tragen weiße Kniestrümpfe mit Zopfmuster, Sandalen und Shorts, sie sehen sich ähnlich wie Vater und Sohn.
Was sucht ihr, fragt Tadek auf Polnisch, auf Englisch, auf Deutsch. Der Vater sagt: Wir sind Ungarnmenschen. Wo haben Ungarnmenschen gelebt? Dort? Er zeigt nach links. Nein, sagt Tadek, das ist Abschnitt B1a, das war das Frauenlager. Die Ungarn waren … warten Sie … die waren da drüben … B2c. Er zeigt auf einen schmalen Weg. Das kann nicht sein, sagt der Sohn, dort hat der Vater das Wohnhaus nicht gefunden, in dem er damals lebte.
Wie soll Ihr Vater die Baracke erkennen, sagt Tadek, wenn doch alle gleich aussehen und von den meisten nur der Schornstein steht?
Tadek gibt dem Vater die Hand. Er stellt sich vor. Tadeusz Szymanski, 20.034. Wie lange waren Sie hier? Der Mann zuckt mit den Schultern. Weiß nicht. Monat eins, Monat zwei – dann fort, anderes Lager. Er zeigt mit dem Arm in eine sehr weite Ferne. Tadek legt ihm seine Hände auf die Schultern: Sei froh, Kamerad, da hast du sehr viel Glück gehabt. Die beiden stellen die Kameras an und machen sich surrend noch einmal auf die Suche nach der Baracke des Vaters. Szymanski geht weiter. Das Wohnhaus nicht gefunden, in dem der Vater lebte.
Frag ihn aus. Wie denn? Wo war dein Haus, Szymanski? Wo hast du überlebt? In welches Arbeitskommando hat man dich gesteckt? Tadeks Schritte sind fest. Er geht stumm durch das Lager. Er sieht sich nicht um, er sucht nichts. Er geht hier nur spazieren. Als die Ungarn ihren Weg wieder kreuzen, noch immer filmend, sagt er ohne Einleitung: Mein Freund Igor war beim Sonderkommando. Eines Abends sagte er: Schlimme Gerüchte, sie rotten die ungarischen Juden aus. Er hatte Recht. Am 15. Mai kamen die ersten Transporte. Das Schnaufen der Loks begleitete uns durch die Nacht und den Tag, fünfundzwanzig Tage lang, elf Monate vor dem Ende des Krieges. Tadek hakt sich bei Lena ein. An den Loks hingen dreißig, vierzig, fünfzig Viehwaggons. Eine nicht enden wollende Masse von Menschen quoll aus den Zügen und wurde zu den Krematorien getrieben. Mütter mit Kinderwagen, alte Leute, junge Männer, die ihre gebrechlichen Großeltern stützten, halb verdurstet, halb verhungert, nur wenige wurden als Arbeitskräfte in das Lager eingewiesen wie der Ungar, dessen Sohn nach einem ›Wohnhaus‹ sucht. An jeden Zug hatten die Nazis offene Waggons mit dicken Holzbalken gehängt und die Ungarn dachten, das sei Holz für die Unterkünfte, die sie bauen sollten. Kein normales Gehirn konnte sich vorstellen, dass das Holz für die eigene Einäscherung vorgesehen war. Die Männer aus dem Sonderkommando drehten durch, sie arbeiteten Akkord, Tag und Nacht, es gab nur zwei Wege, sich dieser Tätigkeit zu entziehen: Selbstmord oder Flucht, was dasselbe war. Zwölf Gaskammern.
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