Der Schrecken verliert sich vor Ort
weiblichen Gefangenen Strychnin und lud seine Gäste ein, dem Todeskampf beizuwohnen. In Weißrussland brannte er siebenhundert Dörfer nieder und verhinderte, dass die Bewohner flohen. Er benutzte Männer, Frauen und Kinder als Minensuchgeräte. Er war ein hochdekorierter Offizier. Wegen seiner Verdienste im Kampf gegen die Partisanen wurde ihm das ›Deutsche Kreuz in Gold‹ verliehen.
Heiner schenkte Wodka nach und sagte: Trink mit mir, Lena, ist nur Wässerchen mit Geschmack.
Im Winter 1944 wurden einhundertfünfzig reichsdeutsche, arische Schutzhäftlinge aus Auschwitz dem Sonderregiment Dirlewanger entgegengetrieben. Ihre Bestimmung war der Tod. Ein Zug brachte sie nach Krakau, wo es eine kurze, militärische Ausbildung gab, dann wurden sie in die Nordslowakei verlegt. Von dort schleppte sich der Zug der Verkleideten der ungarisch-slowakischen Grenze entgegen, sie marschierten fünfzig Kilometer am Tag. Auf den ersten Blick: Hundertsechzig Nazis. Nur wer sie beobachtete, bemerkte den Unterschied. Die Taumelnden in den Uniformen, die Stolpernden, Zusammenbrechenden, waren die Nazidarsteller, die Uniformierten, die auf die Schwächsten der Kolonne schossen, die echten Nazis.
Durchhalten. Am Leben bleiben. Er hatte es Martha versprochen, drei heilige Eide musste er schwören: Durchhalten. Am Leben bleiben. Wiederkommen. An seiner Seite marschierte Franz, ein Deutscher aus Ungarn, der tschechisch sprach. An der slowakisch-ungarischen Grenze wurden sie auf einen zweitausend Meter hohen Berg geführt, man drückte ihnen Schaufeln in die Hände, der Befehl hieß: Eingraben! Als sie in den Löchern saßen, wurden Gewehre verteilt, ein herrliches Gefühl, Lena, kannst du dir das vorstellen? Prickelnde Freude in allen zehn Fingern. Karabiner 98k. Wohlgeformte, glänzende Patronen in der Patronenkammer, der Zeigefinger am gekrümmten Abzug – Macht in der Hand, endlich. Schau Lena, wir sahen uns um, der Franz und ich, ganz genau sahen wir uns um. Vor uns lagen Wiesen mit großen Schneeplacken, rechts ein Wäldchen. Wir hörten Maschinengewehrfeuer, in der Ferne explodierte eine Granate, wir lagen slowakischen Partisanen gegenüber. Der Franz und ich, wir dachten: Die nächste Chance gehört uns. Nach ein paar Tagen in den Löchern sagte der Kompaniechef: Wir brauchen einen Spähtrupp – Freiwillige melden! Wie Raketen schnellten der Franz und ich aus unseren Löchern. Zur Bewachung gab man uns einen SS-Mann mit. Als wir das erste Geräusch der Partisanen hörten, rief der Franz auf Tschechisch: Nicht schießen! Wir kommen rüber! Wir sind Häftlinge aus Auschwitz! Wir haben einen SS-Mann dabei! Sturmbannführer Kruse hatte keine Wahl, wir hätten ihn umgelegt, wenn er nicht mitgekommen wäre. Die Partisanen führten ihn ab, wir haben ihn nie wieder gesehen, uns verhörten sie viele Stunden. Warum tragt ihr Naziuniformen? Ja, warum? Lange Geschichte. Warum habt ihr keine Nummern am Arm? Deutsche Schutzhäftlinge werden nicht tätowiert. Woher habt ihr die Waffen? Von den Nazis. Wieso von den Nazis? Wo ist euer Soldbuch? Wir zeigten es. Seid ihr Juden? Nein, Kommunisten. Wie heißt unser Partisanenführer? Tito. Vorname? Josip Broz.
Sie bekamen Brot und Käse und alle Fragen noch einmal von vorne: Woher habt ihr die Uniformen? Woher die Waffen? Zeigt euren Arm, wo ist die Nummer? Deutsche Schutzhäftlinge werden nicht tätowiert. Was ist ein Schutzhäftling? Habt ihr gar keine Nummern? Doch. 63.378 und 52.419. Gut. Sie wurden einem Trupp von fünf Partisanen zugeteilt, der das Dirlewanger-Regiment aufspüren sollte. An der Seite der Partisanen hatte Heiner keine Angst mehr vor dem Tod.
Sie hörten die Wohnungstür, den schnaufenden Mietek, sein Prusten unter der Dusche, im Bademantel setzte er sich zu Heiner und Lena an den Küchentisch. Lasst euch nicht stören. No opowiedz. Erzähle.
An einem Nachmittag im März 1944 näherte sich der Trupp einem Tal, in dem die Dirlewangerleute gesehen worden waren. Die Luft war kalt und klar. Ein Hund jaulte, sie hörten das leise Klingeln der Glocken am Hals der Schafe und dann war da noch ein kreischendes Geräusch, das plötzlich abbrach, wieder einsetzte und abbrach. Für Heiner war dort ein Schreiner bei der Arbeit. Aus Angst vor einem Hinterhalt versteckten sie sich hinter Bäumen und traten erst auf die Lichtung, als aus dem Tal kein Laut mehr kam. Sie beobachteten die Werkstatt mit dem Fernglas. Niemand verließ das Gebäude und niemand ging hinein, alle Häuser im Tal
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