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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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wirkten verlassen – sie hörten den Hund und die Schafe. Mit entsicherten Gewehren gingen sie auf die Werkstatt zu. Hier lauerte etwas Unheimliches, Heiner spürte es bei jedem Schritt. Ihm war, als hielten die Blätter den Atem an, als stünde das Tal unter Schock. Vor der Werkstatt sagte der Partisanenführer: Du – und zeigte auf Franz. Der öffnete zaghaft die Tür, ging ein paar Schritte hinein und stürzte schreiend und sich übergebend ins Freie, kein Wort war aus ihm herauszubekommen. Der Anführer, ein stoischer Kerl, der den beiden Deutschen nie ganz traute, zeigte auf Heiner. Jetzt du.
    Er betrat das Gebäude vorsichtig wie ein Minenfeld. In der Werkstatt war es schummrig, er blieb im Eingang stehen, um seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Durch zwei Luken im Dach fiel ein wenig Licht auf den Boden und er sah eine Ikone, die in zwei Teile gespalten worden war. Bis heute konnte er sich mit einer Klarheit an sie erinnern, als hätte er nicht Sekunden, sondern einen ganzen Tag mit ihr verbracht. Der obere Teil bestand aus einem runden Gesicht mit schwarzen Augen, einer langen, geraden Nase und einem kindlichen Kussmund. Ein Heiligenschein umgab den Kopf. Auf dem unteren Teil der Ikone sah er ein hellrotes Gewand, aus den weiten Ärmeln ragten Arme, die schmalen Hände waren wie zum Gebet aneinandergelegt. Das Merkwürdigste aber war, dass aus den Händen Schwerter wuchsen, drei aus der rechten, vier aus der linken Hand. Das Bild verfolgte ihn. Viele Jahre später hat er sich den Sinn erklären lassen. Die Schwerter waren das Symbol für die sieben Schmerzen der Gottesmutter Maria. Ihre Flucht nach Ägypten. Ihre Suche nach dem in der Wüste verlorenen Jesus. Seine Gefangennahme. Der Gang über den Kreuzweg. Die Kreuzigung, die Abnahme des Kreuzes und die Versenkung ins Grab. Heiner wäre hier am liebsten festgewachsen, mit der Ikone vor Augen, um nicht sehen zu müssen, was der Franz gesehen hatte, dabei hatte er es längst gerochen, es kroch ihm dumpf und süßlich in die Nase. Er ging zwei Schritte in die Werkstatt hinein und sah nach rechts – dann stürzte er kreischend und kotzend heraus wie vor ihm der Franz.
    Schau, Lena, sagte Heiner, wenn ich heute etwas höre, was an das Säge-Geräusch im Tal erinnert, stürzen sich die Bilder auf mich wie Hyänen. Er zündete sich eine Zigarette an, sah dem Rauch nach, der zur Lampe hochstieg. Worte, Lena, kann ich mir vom Leibe halten, Töne nicht.
    In die Stille hinein sagte Mietek: Es gibt Quark und Pflaumenmus, etwas Süßes auf der Zunge kann nicht schaden. Er kannte die Geschichte. Zwischen Wohnzimmer und Küche brachte er die Geschichte, um sie dem Freund zu ersparen, zu Ende: Den Schreiner, seine Frau, zwei Kinder und den Gesellen – man hatten sie erschlagen und zersägt.
    Rasch erzählte Heiner das Ende Oskar Dirlewangers: Französische Gefangenschaft. Von Häftlingen erkannt und umgebracht. Beerdigung in Deutschland, Gerüchte: Dirlewanger sei Nassers Leibwächter in Ägypten. 1960 Ausgrabung und Untersuchung des Leichnams. Er war es. Das war eine gute Nachricht.

Lena steuerte den ›Roten‹ an den Straßenrand. Pause. Sie streckten sich, beugten die Knie, der Lastwagen saß ihnen in allen Knochen. Heiner zeigte ins Tal – was für ein nettes Städtchen dort unten. Lena zog den Reiseführer aus der Tasche: Nowy Targ. Deutscher Name: Neumarkt. Kreisstadt, 30000 Einwohner. Zwischen 1251 und 1254 erlaubte Borislaw Wstydiwi den Zisterziensern, sich hier anzusiedeln. Zerstörung der Stadt im polnisch-schwedischen Krieg. 1710 kam die Pest und am 8. Juni 1979 Papst Johannes Paul. Die Kürschner von Nowy Targ machen die besten Pelzmäntel und Lederjacken in Polen. Kennst du Radevormwald?
    Warum?
    Eine Städtepartnerschaft, las Lena, gibt es mit der deutschen Stadt Radevormwald. Wo die wohl ist?
    Zwischen Herbeck und Uelfe, sagte Heiner.
    Woher weißt du das?
    Dort soll Kaduk nach der Entlassung gelebt haben.
    Heiner schaute versonnen auf die kleine Stadt im Tal. Weißt du was, rief er, wir fahren nach Nowy Targ und kaufen Lederjacken! Lena sagte: Du spinnst. Sie wühlten sich durch die Jackenvorräte der Geschäfte, diskutierten Größen und Farben und Preise, stritten über hartes und weiches Leder, probierten zwanzig Lederjacken an – waren unbeschwert und übermütig. Glatt und schwarz kam für Heiner nicht infrage, keine Nazijacke, nicht in Polen. Lena fand rot protzig, grün giftig, blau kalt, gelb albern und verzichtete Heiner zuliebe

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