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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Sport ist eine prima Methode, die Muskulatur zu stärken, und zeigt mit gemeiner Vorfreude auf Häftlinge, die zufällig in seiner Nähe sind: Du und du und du und du. Sport, musst du wissen, wurde bei vierzig Grad minus angeordnet und in glühender Hitze. Zuerst: Kniebeugen. Rauf, runter, rauf runter, zwanzig, dreißig, fünfzig, hundert Mal. Dir wird schwindelig, du taumelst, du bist am Ende und dann: Liegestütz. Auf und nieder, auf und nieder, nicht so langsam, ihr stinkenden Schweine, ihr verfurzten Intelligenzler, fünfzig Liegestütz und dann: Häschenhüpfen. Runter in die Knie, die Arme vorgestreckt: Hüpf, Häschen, hüpf. Sie warteten darauf, dass du das Gleichgewicht verlierst und auf den Rücken fällst. Dann schlugen sie auf dich ein wie auf einen ausgepumpten Maikäfer. Weißt du, der Mietek wurde Meister im doppelten Triathlon, als es die Sportart, die er allein für sich erfunden hatte, wirklich gab. Acht Kilometer schwimmen, dreihundertsechzig Kilometer Fahrrad fahren und vierundachtzig Kilometer laufen. Ohne Pause. Den Mietek, sagte Heiner, kann niemand mehr mit Sport umbringen.
    Er schraubte die Flasche Wodka auf. Unser Mietek ist eine Marke für sich. Lena sagte: Du auch.
    Eine Viertelstunde vor Mitternacht riss Mietek die Tür auf und rief: Macht das Licht aus und geht ans Fenster, es beginnt die Verzäuberung!
    Er lief vom Bad ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, von dort in die Küche, hatte nur Augen für die Uhren in der Wohnung. Heiner und Lena standen am Küchenfenster. Die Siedlung war schwarz wie der Ruß. Eine Stadt ohne Licht. Wie tot. Mietek zählte die Sekunden bis Mitternacht. Fünf, vier, drei, zwei, eins, bei ›zero‹ knipste er die grelle Kugellampe an, die auf der Fensterbank im Schlafzimmer stand. Auf die Sekunde genau um Mitternacht wurde es hell in der Siedlung – aber anders als vorher. In einigen Wohnungen brannte das Licht nur in den Küchen, in anderen nur in den Bädern, Wohnzimmern, Treppenhäusern. Mietek hüpfte vor Freude wie ein närrisches Kind. Er klatschte in die Hände, er schrie: Funkcjonowa! Funkcjonowa! Heiner flüsterte: Zauberei, Zauberei. An jeder Hochhausfront, vom Dach bis zum Keller, leuchtete ein Buchstabe aus Licht:
    ›S‹.
    Mietek küsste Heiner und Lena. Aus den Fenstern, die dunkel geblieben waren, hingen Männer, Frauen und Kinder, winkten und skandierten: Solidarność! Solidarność! Nowa Huta war kein Bollwerk gegen die Spinner aus Krakau. Die schwarze Stadt, in der Arbeiter und Studenten lebten, sagte dem Kriegsrecht mit einem einzigen Buchstaben den Kampf an:
    ›S‹
    Als Polizeihubschrauber über die Dächer flogen, gingen die Lichter aus und an, aus und an. Die Hubschrauber senkten sich, flogen tiefer und tiefer durch die Siedlung, knatterten bedrohlich nah an den Fenstern vorbei.
    ›S‹.
    Dreißig Minuten Terror. Dann schwenkten die grauen Heuschrecken nach Westen, woher sie gekommen waren, Richtung Krakau, und als man nur noch ihre Schwänze sah, wurden auf allen Etagen die Wohnungstüren aufgerissen. Na zdrowie! Was für eine Aktion! Was für eine Logistik! Na zdrowie, riefen die Nachbarn, der Mietek hat Freunde aus Deutschland und Heiner und Lena konnten weder die Umarmungen zählen noch die Gläser Wodka, die sie trinken mussten. Heiner trank, bis er nicht mehr stehen konnte. Immer wieder ließ er sich die Geschichte der Aktion erzählen. Die Idee – fantastisch! Die Planung – perfekt! Die Umsetzung – gigantisch! Keine Verräter! Moderner Terror gebiert modernen Widerstand, dass er das erleben durfte – er weinte vor Glück. Er stellte sich ein großes K aus Licht hinter allen Fenstern in Wien vor: Krieg dem Faschismus. Als er gegen drei Uhr ins Bett ging, hielt er sich an Mietek fest und murmelte bis er schlief: Funkcjonowa, funkcjonowa. Ich bin komplett betrinkt, sagte Mietek, morgen bekommen alle im OP ein großes ›S‹ in den Bauch geschnitzelt.

Heiner warf den Sommermantel über die Schulter, er wollte einen heiteren Tag in sein Leben flechten ohne schwere Gedanken, nur Lena an der Hand, Sonne im Gesicht, ziellos durch die Straßen von Krakau ziehen. Damit der Tag beginnen konnte, holte er seinen Blutdruck mit drei doppelten Mokka aus dem Keller.
    Sie gingen durch eine Markthalle, in der es nichts zu kaufen gab. Sie saßen in einer Kirche, in der im Überfluss angeboten wurde, was man nicht kaufen konnte: Lieder und Gebete. Die Blicke, denen sie begegneten, hießen sie willkommen: Schaut, was hier

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