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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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deckte den Tisch. Das Gericht wurde in hohen Gläsern serviert. Den Boden bedeckte ein Spiegelei, darauf wurden Bratkartoffeln und Zwiebeln geschichtet, das zweite Ei lag wie ein Deckel obendrauf. Mietek und Heiner stachen ihre Gabeln durch die Eier und Kartoffeln auf den Boden des Glases und rührten darin herum, bis alles ein matschiger, gelber Brei war. Lena sah beim Essen starr auf den Tisch. Mietek aß wie Heiner, malmend und schmatzend, zwei Häftlinge, die selbstvergessen die Nahrung auslutschten.
    Lena, warum isst du nichts?
    Sie schob den beiden ihr Glas hin. Die Männer zerstörten die schöne Eier-Kartoffel-Schicht und teilten sich den Brei. Als es dunkel wurde, zog sich Mietek zum Joggen um, Heiner ging ein paar Schritte um den Block, die schwarze Siedlung zog ihn an. Ein ›S‹ aus Licht an jedem Haus und keiner, der den Plan verraten hatte, was für ein wunderbarer Widerstand. Und die Buchstaben, die sie abends neben ihre Autos schrieben, verbargen sich dahinter Botschaften, die nur von den Bewohnern der Siedlung verstanden wurden? Und dass Mietek abends durch die Straßen rannte und man das Schlurfen der Schuhe auf dem Asphalt hörte, lange bevor man ihn sah – war das ein Signal, eine Botschaft, oder lief er wirklich nur, weil er ohne Erschöpfung nicht schlafen konnte. Punk po Polska, was für ein Land. Striemen auf dem Rücken und eine zertrümmerte Nase – und er fuhr Päckchen nach Polen, während sein Freund Mietek die Arbeit verlieren konnte, wenn nicht sein Leben.
    Was meinst du, Lena, wenn wir in Polen leben würden, wäre ich dann bei den Leuten mit dem großen ›S‹?
    In der ersten Reihe, wo sonst.
    Er goss Wodka in zwei Gläser, stürzte seinen hinunter wie Medizin und schüttelte sich. Er steckte sich eine Zigarette an, sah mit abwesendem Blick in sich hinein, suchte dort nach der Geschichte, die er erzählen wollte und ahnte nicht, dass sich Lena davor fürchtete wie vor keiner anderen. Heiner in SS-Uniform? Unvorstellbar, absurd. Andererseits – was war schon unvorstellbar?
    Schau Lena: Dirlewanger. Es begann mit einem Gerücht, das von draußen ins Lager getragen wurde. Es hieß, man würde politische Häftlinge aus Konzentrationslagern in das Sonderregiment Dirlewanger stecken. Dirlewanger, dachten wir damals, schlimmer konnte es nicht kommen. Das Sonderregiment, musst du wissen, bestand aus kriminellen SS-Leuten, die zur Bewährung an die gefährlichsten Fronten geschickt wurden, und weil dort niemand lange überlebte, musste es mit einer anderen Art von ›Kriminellen‹ aufgefrischt werden, mit reichsdeutschen, arischen Schutzhäftlingen.
    Zwei Monate nach den ersten Gerüchten bekam Heiner ein rotes Zettelchen mit seiner Nummer: 63.387, einem Datum: Dienstag, 7. November 1944 und einem Befehl: Fünf Uhr Lagertor! Wie oft hatte er von der Befreiung geträumt und wie er das Lager mit stolz erhobenem Kopf für immer verließ. Träume, so plastisch, dass er die Lagerstraße unter den Fußsohlen spürte. Und nun stand er mit hundertfünfzig Männern im eisigen Wind am Lagertor, im Schutzhaftbefehl zwei Buchstaben: RU Vor ihnen stand der Kommandant. Dieses ist eure Chance, Männer! Ihr könnt wieder gutmachen, was ihr am Vaterland verbrochen habt. Ihr seid Freiwillige, niemand wird gezwungen, wer die Chance nicht ergreifen will – der Kommandant zog die Pistole aus dem Halfter und hielt sie schräg nach unten, Genickschuss, sie kannten die Geste. Niemand verließ die Kolonne. Zackig marschierten sie vom Lager in die Bekleidungskammer der SS. Dort musste Heiner die verhasste Häftlingsmontur ausziehen und hätte nie gedacht, dass er sie gerne weiter getragen hätte wie einen lieb gewonnenen Anzug! Nun steckte er in der Uniform der Peiniger – das brannte, als trüge er Stacheldraht auf nackter Haut.
    Dirlewanger – was wussten sie damals von Dirlewanger? Dass er ein Nazi war der ersten Stunde, Offizier, Mitglied der Waffen-SS, dass er im Zuchthaus war, weil er im Streit einen Vorgesetzen erschossen hatte. Das Schlimmste wussten sie nicht.
    Nach dem Krieg sammelte Heiner alles, was über diesen Mann geschrieben wurde. Dirlewanger war, als der Krieg begann, keine vierzig Jahre alt. Er hatte Staatswissenschaft studiert, promoviert, war wegen Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Mädchens zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Im Krieg dachte er sich seine ›Vergnügungen‹ selber aus. Er feierte Feste und ließ Menschen im Beisein der Gäste zu Tode peitschen. Er gab

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