Der Schrecken verliert sich vor Ort
auf schwarz. Sie entschieden sich für zwei weiche, braune Lederjacken, die sie in Erinnerung an Heiners unheimliche Begegnung ›Hirsch-Jesu-Jacken‹, nannten, was abgekürzt HJ ergab, Spaß muss sein. Die HJ-Jacken trugen sie im Sommer und im Winter und immer sahen sie das Tal vor sich und das nette Städtchen Nowy Targ.
Die Sonne schien ins Fahrerhaus, die Landschaft war lieblich und gewaltig zugleich, die Luft mild wie guter Weizenwodka. Sie kurbelten die Fenster herunter und streckten die Arme in den warmen Wind. Wozu Urlaub in der Südsee, wenn in Polen auch die Sonne scheint.
Die Veranstaltung begann um acht. Polnische Pfadfinder hatten für deutsche Pfadfinder Heiners Freund und Kameraden eingeladen, dessen Name in großen Lettern auf dem Programmzettel stand. Stanislaw Piontek, 23.153. Lena wusste Bescheid. Lageradel. Zweiter oder dritter Transport, Dezember 1941, grob gerechnet drei Jahre Auschwitz. Aber an dem Ort, an dem er in jeder Minute sein Leben hätte verlieren können, darf man nicht grob rechnen. Stan Piontek hatte 1136 Tage Auschwitz überlebt.
Die Bühne des Gemeindehauses war mit schwarzem Samt ausgekleidet und viel zu groß für den zierlichen Tisch, den kargen Stuhl, die Leselampe – die Möbel sahen aus, als gehörten sie in eine Puppenstube. Auch der Saal war zu groß für sechzig Pfadfinder und ihre Begleiter, jeder dritte Stuhl blieb frei. Heiner und Lena saßen in der ersten Reihe. Heiner freute sich auf den Auftritt seines Kameraden, er war stolz auf diese Freundschaft. Stan hatte ihm 40.225 Nummern voraus. Die Pfadfinder unterhielten sich unbeschwert bis zu dem Augenblick, in dem das Licht ausging und ein Mann auf der Bühne stand, den niemand hatte kommen sehen. Er war lautlos durch eine unsichtbare Tür getreten, sein Körper warf einen langen Schatten auf die Bühne, die Zuschauer im Saal verstummten vor Schreck.
Stanislaw Piontek war ein untersetzter Mann mit wilden weißen Locken. In der rechten Hand trug er, wie ein Angestellter auf dem Weg ins Büro, eine abgewetzte Aktentasche. Er verneigte sich, die jungen Leute klatschten. Wofür Applaus, sagte er harsch, ihre Hände blieben in der Luft stehen. Er zog das Mikrophon aus der Aktentasche und machte eine Tonprobe: Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei-drei. Dann kippte er demonstrativ den Stuhl gegen den Tisch. Das Stück wurde nicht im Sitzen gespielt.
Meine Herrschaften!
Sie hören, sagte er, ich spreche deutsch. Ich benutze Mikrophon, weil ich chronisch heiser bin. Sie wollen wissen, wie ich habe Deutsch gelernt? Ich will Ihnen sagen: Durch Singen.
Die deutschen Lieder, dachte Lena, sie gehören zu ihrem Leben wie die Prügel und die Tritte.
Stan Piontek trat vom Tisch zurück, stand einsam auf der großen Bühne und sang mit der Kraft eines ganzen Chores: Im Lager Auschwitz war ich zwar, Hollerie und Hollera! Doch denk ich frohgemut und gern, an meine Lieben in der Fern’! An jedem Morgen in der Früh’, beginnt des Tages Last und Müh’. Ob Arbeitsdienst, ob Sport uns zwingt, doch stets ein frohes Lied erklingt. Doch kommt für uns auch mal die Zeit, wo aus der Schutzhaft wir befreit. Dann werden froh wir heimwärts zieh’n, ganz gleich, ob’s schneit, ob Rosen blüh’n!
Meine Herrschaften!
Einen Augenblick fürchtete Lena, er würde die Besucher zwingen, mit ihm dieses Lied zu singen. Aber er begann nur eine langsame Wanderung von einer Seite der Bühne auf die andere. Zwanzig Meter hin, zwanzig zurück, ein lebendiges Pendel.
Ich will erzählen, sagte er, was kann passieren, wenn ein Mensch in Auschwitz ist abgehauen von seinem Arbeitskommando. Einverstanden? Er erwartete keine Antwort. Wenn ein Mensch ist geflüchtet, sagte er, dann brüllt der Kapo: Kompanie antreten! Jeder wirft Werkzeug hin und rennt zum Appellplatz.
Lena wusste nicht, wie oft Heiners Freund hier schon aufgetreten war. Er kannte die unheimliche Wirkung der Bühne, er nutzte sie perfekt. Wenn er über den Teil pendelte, der am weitesten von der Rampe entfernt war, war er fast unsichtbar – verschluckt vom schwarzen Samtvorhang. Dann wanderten nur die weißen Haare über die Bühne und mit ihnen seine Stimme.
Meine Herrschaften!
Wenn einer ist abgehauen, ganze Landschaft, jeder Strauch, jeder Busch, jeder Graben wird kontrolliert. Blockführer und Lagerältester rufen minutenlang Nummer und Namen des Vermissten. In der Geschichte, die ich will erzählen, erscheint Lagerkommandant Höss persönlich, das verheißt nichts Gutes. Schweigend,
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