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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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geschieht. Sagt es weiter. Sie hoben ein Flugblatt auf, das ihnen der Wind vor die Füße wehte und steckten es ein. Der Text bestand aus wenigen Zeilen und großen Buchstaben: Siehe Herr, Dein Land weint. Gib Deine Kraft den Kämpfenden, den Gefangenen und Geschundenen und segne Solidarność.
    Auf Straßenschildern prangte das große ›S‹ mit dem Ankerzeichen, schnell aufgesprüht mit roter Farbe, das Symbol des polnischen Widerstands, der kämpfenden Solidarität. Die Postkarten, die sie kauften, waren aus der Zeit, in der die Läden voll, die Auslagen bunt und die Straßen voller Touristen waren. Sie hätten gerne Postkarten vom Kriegsrecht gekauft, aber die gab es nicht.
    Vor einer Galerie stand eine Gruppe junger Leute. Frag, was hier los ist, sagte Heiner.
    Dzien dobry, sagte Lena, guten Tag, darf ich fragen, worauf ihr wartet?
    Wir warten nicht, wir beschützen die Ausstellung.
    Sie zeigten auf zwei großformatige Fotografien, die auf einer Staffelei standen. Das erste Bild zeigte das Gesicht eines Mannes. Die Augen blau-schwarz-violett zugeschwollen, die Nase zertrümmert. Das zweite Bild zeigte den Rücken desselben Mannes. Er war aufgerissen und voller blutiger Striemen. Darunter stand das Motto der Ausstellung: Punk po Polska – Punk in Polen. Lieber Himmel, sagte Lena, der Galerist muss lebensmüde sein. Oder todesmutig, sagte Heiner.
    Sie blieben vor einer Metzgerei stehen, in der es nicht den kleinsten Zipfel Wurst gab. Die weißen Kacheln glänzten frisch poliert, die Flächen unter der Theke waren leer. Die Tür zum Lager stand offen, damit jeder einen Blick auf die blanken Regale werfen konnte. Im Schaufenster lag ein Stück Pappe, angestrahlt von zwei nackten Glühbirnen. Auf der Pappe stand ein einziges Wort: Nic. Nichts. Wie damals in Wien, sagte Heiner, als ich rote Hungerkreise sah.
    Sie setzten sich auf eine Bank an der Weichsel. Am anderen Ufer stand eine Fabrik mit einem roten Schornstein, aus dem weißer, dünner Rauch in die Luft stieg. Sie haben hier nicht viel zu tun, sagte Heiner, sonst wäre der Rauch schwarz und dick.
    Schweigend beobachteten sie eine Frau und ihren Hund am Ufer der Weichsel. Die Frau hob einen Stock, holte weit aus und schleuderte ihn in die Richtung des Flusses. Eine Weile flogen sie um die Wette, der Stock und der Pudel. Dann bremste der Hund, sah zu, wie der Stock ins Wasser fiel und dachte nicht daran, ihm nachzuspringen. Er drehte sich zum Frauchen um, sein Bellen klang empört. Sie versuchte es mit dünnen Ästen, dicken, kurzen Ästen – immer mit dem gleichen Ergebnis. Der Stock fiel ins Wasser, der Hund saß am Ufer und kläffte. Kluger Hund, sagte Heiner, schau dir das Tempo der Weichsel an, wenn er springt, reißt sie ihn mit. Lena sagte: Und wenn das die Absicht ist?
    Der böse Gedanke schien ihn zu freuen. Er hatte für Hunde nicht viel übrig, auch nicht für kleine. Mit Katzen hätte man Mietek nicht auf den sprechenden Baum jagen können.
    Heiner, sagte Lena, was war mit den Kratzern am Auto?
    Er antwortete mit einer Frage: Was hörst du gerade?
    Den Hund. Die Weichsel. Autos. Ein Flugzeug. Ich höre dich rauchen.
    Geräusche, sagte Heiner, sind hinterhältiger als Wörter, wusstest du das? Wörter kannst du, wenn sie dich erinnern, überhören oder schnell beiseite schieben. Aber ein Geräusch, auf das du nicht gefasst bist, ist eine Tretmine. Du gehst hoch, ganz ohne Schutz.
    Der Auslöser für die Panik war ich?
    Schau Lena, das ist eine lange Geschichte. Es fing damit an, dass ich Auschwitz in SS-Uniform verlassen habe. Weißt du, wie das passieren konnte?
    Ein Fluchtversuch in Nazi-Uniform?
    Nein.
    Vielleicht bist du Nazi geworden, mein Schatz.
    Er nickte. Sie starrte ihn an.

Am Abend vor der Abfahrt stellten sie zehn Pakete in Mieteks Flur, zwei für ihn, acht für die Station im Krankenhaus, auf der Menschen betreut wurden, die, wie Zofia, aus der Welt geflüchtet und nicht mehr zu erreichen waren. Sie brauchten Schuhe und Mäntel, Hosen und Pullover, Gemüse aus der Dose, Kaffee, Tee und Honig, vor allem Schmerzmittel und Antidepressiva, die in Polen unbezahlbar waren. Von den Dollars, die Heiner und Lena in der Ladung versteckt hatten, konnten zusätzliche Pfleger und Betreuer bezahlt werden.
    Am Abschiedsabend brachte Mietek aus der Krankenhausküche neun Kartoffeln mit, sechs Eier und eine Zwiebel, die er in winzige Würfel schnitt. Lena schälte Kartoffeln und briet sie roh in der Pfanne, Spezialität einer Tante aus Danzig. Heiner

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