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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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in korrekter, steifer Hab-Acht-Stellung, wir warten auf das Böse, was geschehen wird. Höss weist seine Lakaien an, sich zu greifen aus unserem Kommando Leute: Du und du und du und du, willkürlich, egal, wen es trifft. Sie schleifen sechs Kameraden in Block eins. Arme Kameraden. SS-Männer öffnen Fenster, wir sollen es hören. Müssen dem Pfeifen der Ochsenziemer lauschen und den gellenden Schreien der Geschlagenen. Eine Stunde werden sie bearbeitet. Herrschaften, stellt euch das vor: Eine Stunde ihr werdet geschlagen mit dem Ochsenziemer!
    Schaut auf eure Uhren!
    Das war ein Befehl und alle im Saal befolgten ihn. Wer keine Uhr hatte, sah auf das Ziffernblatt des Nachbarn. Stan Piontek kam vor bis zur Rampe und klappte seine Taschenuhr auf. Er ließ sein Publikum sechzig endlos lange Sekunden auf die Uhren starren. Dann nahm er die Wanderung über die Bühne wieder auf.
    Herrschaften, das war nur eine Minute, stellt euch sechzig vor. Dann kommen die Folterer heraus und sehen ganz fertig und zufrieden aus und haben schon neuen Plan ausgedacht. Fragen frech und hinterhältig: Wer hat mit dem Geflüchteten in derselben Stube geschlafen? Zwei melden sich. Ein alter Mann und ein Junge in meinem Alter, achtzehn vielleicht. Sie werden halb totgeprügelt vor unseren Augen, können aber nichts gestehen, weil sie in die Flucht nicht eingeweiht worden sind. Dann kommt wieder Kommandant und droht: Wenn sich nicht bald einer meldet, der von der Flucht gewusst hat, muss jeder zehnte dran glauben. Er zieht den Revolver und hält ihn halbschräg nach unten, peng, Genickschuss. Deutsche Sprache ist schöne Sprache, meine Herrschaften.
    Dran glauben! Wie an Gott!
    Wenn Höss mit Erschießung droht, muss man nicht zweifeln, kann man dran glauben, wird wahr. Wir stehen steif wie Baumstämme seit sieben Stunden auf dem Appellplatz. Ohne Wasser, ohne Essen. Muskeln versagen, Beine schwellen an. Wer in die Hose macht, bekommt Extraprügel. Dann kommt die Nacht und wir sehen sehnsüchtig auf zu Sterne und Mond. Es sind unsere Sterne, es ist unser Mond. Es ist unsere Erde, auf der sie uns quälen. Was haben wir getan? Warum tun sie das? Als der Morgen dämmert, immer mehr Männer werden ohnmächtig. Wir stehen seit sechzehn Stunden. Plötzlich Höss ändert Plan. Niemand wird erschossen, Tortur ist zu Ende. Aber die acht Häftlinge, die sind verdächtig, dem Geflüchteten geholfen zu haben, werden in Hungerbunker von Block 11 gesperrt, ob Verdacht stimmt – egal.
    Manchmal blieb Heiners Freund in der Mitte der Bühne stehen und hob den Kopf, als horche er in sich hinein, als müsse er überprüfen, ob er nicht verrückt sei, ob er keine Fieberträume vortrage, ob alles, was er erzählte, tatsächlich geschehen sei. Immer wieder schlug er sich mit der linken, flachen Hand gegen die Stirn, als könne er den Irrsinn, den er erzählte, nicht glauben. Einmal stützte er sich auf die Tischplatte. Da lagen seine Hände unter dem Licht der Leselampe, als wären zehn weiße Finger und ein Mikrophon alleine auf der Bühne.
    Meine Herrschaften, wollen Sie wissen, wie es zugeht in einem Hungerbunker?
    Er wartete. Aber worauf? Sollten sie nicken? Sollten sie ›ja, gerne‹ sagen? War es erlaubt, ›nein‹ zu sagen? Er würde die Geschichte erzählen, er hatte sich darauf vorbereitet und wenn Lena sie nicht hören wollte, müsste sie den Saal verlassen. Aber ein Mann wie Stanislaw Piontek wäre in der Lage, quer durch den Saal zu rufen: Meine Dame, langweile ich Sie? Und dann? Müsste sie sagen: Es ist nicht Langeweile, Herr Piontek, es ist Entsetzen. Wenn eine Zelle ›Hungerzelle‹ heißt, dann weiß man doch, was dort geschieht. Lena blieb sitzen, alle blieben sitzen und am Ende der Vorstellung wussten alle, dass das Wort ›Hungerzelle‹ nicht verriet, was dort geschah.
    Für Stan Piontek war Schweigen Zustimmung. Er nahm seine Wanderung über die knarrenden Bühnenbretter wieder auf.
    Hungerzelle hat kein Fenster, sagte er. Ist dunkel. Wir sitzen auf dem Betonboden und gewöhnen uns an das graue Licht. In der Decke gibt es kleine Öffnung, durch welche bisschen Luft kommt rein. Wir sind drei Polen. Zwei aus Warschau, ich aus Bydgoszcz. Zwei Tschechen aus Prag, woher die Russen kommen, weiß nicht mehr. Der Deutsche ist aus Lüdenscheid, junger Kerl, wir nennen ihn Lüdenscheid, weil wir den Namen lustig finden. Wir schweigen. Es gibt nicht viel zum Sagen. Es ist das Ende von acht Menschen und kannst du glauben, wenn es Höss versprochen hat.

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