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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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ein. Nirgendwo brannte Licht, die Stadt schlief, die Pfadfinder waren nach der Vorführung von einem Bus abgeholt worden. Auf den Bergen, die Zakopane einrahmten, lag Schnee, am Himmel funkelte ein großes ›W‹. Wer das Sternbild der Kassiopeia entdeckt, hat einen Wunsch frei. Lena sagte: Kassiopeia, schenke Heiner und seinen Freunden ein langes Leben und immer guten Wodka.
    Als sie im Bett lag, war sie nicht mehr müde.
    Heiner?
    Er lag angezogen auf der Bettdecke und schlief. Heiner, flüsterte Lena, wo in euch ist das Archiv, in dem ihr die Erinnerungen aufbewahrt? Sie zog ihm die Schuhe aus. Ihr verändert die Geschichten, ihr schreibt sie um, ihr erzählt sie jedes Mal anders, merkt ihr das? Sie knöpfte sein Hemd auf. Wenn ich einen Text, der mich zum Weinen bringt, zehn Mal lese, kommen keine Tränen mehr – ist das der Grund, warum ihr die Geschichten verändert? Sie zog ihm die Hose aus. Macht ihr es nicht für die anderen, sondern für euch? Wollt ihr eure Trauer retten?
    Heiner?
    Sie zog ihm die Socken von den Füßen. Die Vorstellung, dass Heiner und seine Freunde das Universum, das in ihren Köpfen steckte, ins Grab mitnahmen, war ungeheuerlich. Sie schrieben auf, was sie erinnerten, sie sprachen ihre Vorträge in Mikrophone, dennoch war das, was sie erlebt hatten, nicht dasselbe wie das, was man später lesen oder hören konnte. Man müsste aus ihren Erinnerungen Impfstoff machen.
    Heiner?
    Wie die Welt wohl aussähe, wenn man Erfahrungen als Infusionen übertragen könnte. Er atmete ruhig und tief. Sie hörte dem Schlag seines Herzens zu, bis sie selber schlief.
    Stan kannte den Freund und seinen Widerwillen vor Abschieden, er breitete die Arme aus. Kein Wort, auch nicht das kleinste, kann ich sagen, wozu das Herz den vollen Schlag verwehrt, die Stunde drängt, gerüstet steht der Wagen . Lena ließ den Wagen an, Stan winkte und rief noch ›Auf Wiedersehen‹, als sie ihn nicht mehr hören konnten, nur noch die Bewegungen seines Mundes sahen.
    Immer dieses verfluchte ›Auf Wiedersehen‹, sagte Heiner. Wo denn, mein Freund, in welchem Land, an wessen Grab?

III Wenn die Vögel unruhig werden und der Tag zuende geht, nimmt er zwei hohe Gläser aus dem Schrank und mixt den Cocktail, den Leszek um die gleiche Stunde seiner Tante bringt. ›Zofias Medizin‹ besteht aus ein paar Tropfen Himbeersirup, drei Esslöffeln fein gehackter Eisspäne, einem großen Blatt frischer Minze und einem guten Schuss Wodka. Wenn das Eis knistert, ruft er in den ersten Stock: Blaue Stunde, Schatz. Wenn es still bleibt, ruft er noch einmal lauter und wartet, bis er Lenas zustimmendes Knurren aus dem Arbeitszimmer hört. Die Dämmerzeit zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit ist ihnen zur innigsten Stunde des Tages geworden. Fünfzig Minuten Poesie ohne Gedicht, sagt Lena. Meistens schweigen sie, manchmal sagen sie einen Satz, der nicht auf Antwort wartet, weil er nicht mehr ist als ein lauter Gedanke. Am liebsten hört Heiner mit geschlossenen Augen der schönsten Musik zu, die er sich vorstellen kann. Den hohen Stimmen der Regenpfeifer, dem Fiepen der Austernfischer, den kurzen Zwischenrufen der Brand-, Trauer- und Graugänse, den Koloraturen der Lach- und Silbermöwen, dem sehnsüchtigen Gesang der ziehenden Schwäne. Er denkt an den Freund in Polen. Ohne Angst vor Widerhall, singt ganz leis die Nachtigall.
    Lena probiert flüsternd den Klang der Übersetzung aus, an der sie arbeitet. Erst deutsch, dann polnisch, dann murmelt sie wieder deutsch den Anfang der Novelle, den sie auswendig kennt, diesen Endlossatz mit dem speziellen Klang, der von weit herkommt, wie aus blasser Erinnerung gesprochen:
    »Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von der ›Leipziger‹ oder von ›Pappes Hamburger Lesefrüchten‹ …«
    Ein Satz fällt immer: Schau, dieses Licht. Sie hatten es im Frühling entdeckt, aber es ist zu jeder Jahreszeit da und bei jedem Wetter. Die Farbe des Regens verändert sich, wenn sich die Nacht anschleicht, weißer Nebel wird grau, auch die Vögel nehmen das Ende der blauen Stunde wahr. Sie kreischen wie Kinder, die nicht schlafen wollen – das ist Heiners Signal. Die Gläser sind leer, er zieht die Schuhe mit

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