Der Schrecken verliert sich vor Ort
Wie lange dauert verhungern, fragt Lüdenscheid. Fünf Tage? Sechs? Sieben, acht? Schlimmer ist Durst, sage ich, bevor wir sterben, wir werden wahnsinnig. Gibt es Hoffnung, fragt einer der Russen. Er bekommt keine Antwort, im Lager gibt es keine Wunder. Einer der Tschechen fragt: Was können wir tun, um erschossen zu werden? Ich sage: Nichts. Urteil heißt Hungertod, Urteil heißt nicht Erschießung. Mein polnischer Kamerad sagt: Bringen wir uns gegenseitig um. Ich frage: Wie? Er sagt: Würgen. Ich sage: Und wer würgt den letzten? Er sagt: Er sich selber. Wir lachen wie die Irren.
Wie lange sind wir ohne Essen, ohne Trinken? Sechzehn Stunden Stehappell – und dann folgt eine graue Endloszeit ohne Nacht und ohne Tag. Lüdenscheid ruft seine Mutti. Er ist siebzehn. Ich nehme ihn in die Arme, meine Herrschaften, und während ich ihn wiege wie ein Baby, träume ich von frisches Wasser, großes Braten, weißes Brot mit Butter und Schinken. Ich bekomme Schluckkrampf, mein Speichel wird dick, meine Lippen sind heiß wie Glut und springen auf und ich weiß, dass es noch schlimmer wird. Irgendwann fängt älterer Tscheche an, von seiner Frau zu erzählen. Ganz leise, ganz zärtlich – er zaubert einen Engel in den Hungerbunker. Sein Kamerad faltet die Hände. Er spricht langes Gebet, das ich nicht verstehe, aber schön ist es wie ein Lied. Fieber fängt an, Durst tut weh, aber nun kommt wie ein Anfall über uns der Zwang, Geschichten aus dem Leben zu erzählen, gute Geschichten von Liebe und Glück.
Meine Herrschaften!
Der erste, der Nerven verliert, ist der Russe, der nach Hoffnung gefragt hatte. Plötzlich fängt er an, mit Fäusten gegen die Tür zu schlagen und nach dem Kommandanten zu rufen. Höss! Höss! Höss! Was willst du von Höss, fragt Lüdenscheid. Morden, schreit der Russe, alle umbringen, ganz Deutschland in Gaskammer stecken, Tür zu und Schluss mit Auschwitz. Mach das, sagt Lüdenscheid, aber lass mich übrig. Ein bisschen können wir noch lachen. Der Tscheche, der uns den Engel in die Zelle gezaubert hat, trägt schwarzes Dreieck an der Jacke, kein rotes wie wir Politischen. Er ist ein ASO, ein asozialer Häftling, keiner weiß, was für die Nazis ASO ist. Ein lieber Kerl, vielleicht hat er nur Stück Brot geklaut. Am dritten Abend spuckt der Russe, der alle Deutschen umbringen will, Blut. Sein Körper zuckt und krampft.
Im Saal war es still, als hätten alle das Atmen vergessen.
Meine Herrschaften, ich erzähle Schluss. Meine polnischen Landsleute reißen Schuhe in Stücke und machen acht kleine Haufen. Sie haben gehört, dass du kannst dein Leben verlängern, wenn du kaust Leder. Alle haben davon gehört, aber ich glaube es nicht, ich rühre den Haufen nicht an. Der kleine Lüdenscheid liegt in der Ecke wie Leiche und kriegt nichts mehr mit. Es dauert nicht lange, da kotzen die, die das Leder gekaut haben. Sie bekommen grausame Schmerzen, schreien und krümmen sich wie Würmer. In dieser Nacht stirbt mein polnischer Kollege unter Teufelsqualen. Unser erster Toter. Dann dreht der Russe durch. Schlägt den Schädel gegen die Wand, hat Schaum vorm Mund. Mein Kopf saust und braust, ich kann nicht unterscheiden, wer lebt, wer nicht. Immerzu das graue Licht. Ich fühle, wie der Tod mich in die Arme nimmt. Ist gut so, denke ich, soll so sein, den Vater haben sie vor deinen Augen ins Gas geschickt, wo die Mutter ist, weißt du nicht, soll mich mitnehmen, der Tod, soll mich zum Vater bringen. Alles ist ruhig, alles ist still, ich schwebe davon, alles ist zu Ende. Sterben ist schön.
Stan Piontek blieb in der Mitte der Bühne stehen. Er schaute ins Publikum, ließ den Blick von der ersten bis zur letzten Reihe schweifen, so dass jeder im Saal das Gefühl hatte, persönlich betrachtet zu werden, auch Lena, die sich aber sagte, dass der Mann auf der Bühne kein einziges Gesicht erkennen konnte, weil der Scheinwerfer ihn blendete.
Meine Herrschaften!
Ich war schon hoch oben beim Vater im Himmel, als ich vertraute Befehle hörte. ›Aufstehen, dalli, dalli, Schweinebande, verfickte, verfurzte, polnische Intelligenz!‹ Großer Schreck: Ist Himmel auch schon voll mit Nazis? Nein, nur Gestapobesuch aus Berlin. Dalli, dalli, Keller muss sauber sein. Besuch soll keine verkotzten, verschissenen Gestalten sehen im Hungerblock. Kapos haben schnell entsorgt unsere sechs Toten. Der kleine Lüdenscheid und ich wurden von Kameraden in die Blocks getragen wie Trophäen, haben uns gepflegt wie Babys. Große Sensation!
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