Der Schrecken verliert sich vor Ort
den weichen Sohlen an und verlässt das Haus. Lena trägt die Gläser in die Küche und geht in ihr Arbeitszimmer. Heiner sagt wie immer: Ich nehme keinen Schlüssel mit, du bist ja da und beginnt seine Runde, die er am Anfang mürrisch absolvierte wie ein Sklave und nun hätte ohne diesen Weg der Tag ein Loch. Geh doch mal anders herum, hatte Lena im ersten Jahr gesagt, nach rechts statt nach links, erst zur Warft und dann zum Wasser oder nicht zum Wasser und nicht zur Warft, geh zum Fischteich oder am Kanal entlang, du bist ein freier Mensch, du hast keinen Hofgang.
Er nickt und geht nach rechts, wie immer auf den Feldweg, der zum Wasser führt. Wer zu oft die Wege wechselt, sieht nicht genug, sagt er, nur auf den Wegen, die du täglich gehst, begreifst du, wo du wirklich bist. Das Meer zieht ihn an und bleibt ihm fremd. Es wechselt launisch Farbe und Temperament, wie es ihm passt, manchmal stündlich. Es ist lahm wie die Pfütze am Straßenrand, grollt wie ein schwerer Donner, beherrscht alle Nuancen dazwischen und meistens ist es gar nicht da – dann ist Ebbe. Die Vielfalt des Meeres ist ihm unheimlich, auf das Meer ist kein Verlass, dennoch ist es das erste Ziel auf seinem Abendweg. Er steht auf dem Deich, hält das Gesicht in den Wind, achtet darauf, tief ein- und noch tiefer wieder auszuatmen, wie es Mietek befohlen hatte, denkt dabei an die Lunge und die großen und die kleinen Bronchien und wendet sich vom Wasser ab, um auf dem schnurgeraden Feldweg der Warft entgegenzulaufen, auf der es die Abwechslungen gibt, die sich nicht aufdrängen, die er entdecken muss, die klein sind und wertvoll wie die Ameisen in Olgas Bernsteinfunden. So wie Olga in feinen Pflanzenfasern die Vergangenheit findet, kann Heiner in der Gegenwart die Zukunft sehen. Er hat diesen Blick nie abgelegt: Sieh genau hin, kapier die Struktur, unterschätze nicht die kleinen Veränderungen, sie könnten großen Wert bekommen. Den Kopf leicht gesenkt, mit den geduldigen Schritten eines Wanderers, geht er jeden Tag die gleichen Wege durch die frische Luft, die ihm Mietek verordnet hatte. Die Hände liegen auf dem Rücken, eine Botschaft für Lena, falls sie am Fenster steht: Schau, leere Hände, ich rauche nicht.
Dass er im Norden wohnt, dort, wo es ihn nie hingezogen hat, hängt mit einem Geburtstagsgeschenk zusammen, das nicht vorgesehen war, das ihm ohne Verpackung überreicht wurde und allen einen Schock versetzte, außer ihm selbst. Das Geschenk wurde ihm im Schloss Tulbing bei Wien von Mietek überreicht, dem Freund, der aus Nowa Huta kam und eigentlich in Wien nur unbeschwert auf Heiners siebzigsten Geburtstag anstoßen wollte. Das Schloss gehörte dem Kameraden und Freund Salomon, dessen Häftlingsnummer 63.140 Heiner so gut kannte wie seine eigene. Salomon hatte mit ihm in der Schreibstube gearbeitet, er kam mit demselben Transport, auch in seinem Schutzhaftbefehl standen die Buchstaben RU. Was das verrückte Glück anging, überlebt zu haben, waren sie Zwillinge. In Salomons Schloss hatten Heiner und Lena ihren zehnten Hochzeitstag gefeiert und auch an seinem siebzigsten Geburtstag waren sie Salomons Gäste, weil Heiner ihm das Leben gerettet hatte, was Heiner bestritt, weil es umgekehrt gewesen sei, was Salomon bestritt. Sie feierten Heiners drei Leben. Das ›davor‹ dauerte zweiundzwanzig Jahre, das Leben ›dort‹ war ewig, und das Leben ›danach‹ bestand am siebzigsten Geburtstag aus fünfundvierzig Jahren, fünfundzwanzig mit Lena. Rosenblätter lagen auf weißen Tischdecken, in silbernen Leuchtern steckten hohe Kerzen, Heiner trug einen weißen Anzug, Lena ein langes, schwarzes Kleid. Lenas Freunde waren gekommen, auch Olga aus Danzig, von Heiners polnischen Freunden fehlte nur Kosta, der Adler hatte eine knappe Absage geschickt: Zu viel zu tun, die politische Lage, zwei Ausreden in einem Satz. Die Kapelle spielte eine wilde Mischung aus Mozart, Strauß und Liedern aus dem polnischen Widerstand. Leszek nannte Heiner in seiner Rede den todernstesten und todwitzigsten Menschen, den er kannte und schloss den Vortrag mit einem Gruß von Tante Zofia: Dies ist kein Sanatorium, dies ist eine deutsche Strafkompanie. Die Polen lachten, sie kannten Leszeks Tante und die Landschaft im Schlafzimmer, die ihr Frieden brachte. Sie stießen die Wodkagläser aneinander. Na zdrowie. Dies ist kein Sanatorium … Heiner bemerkte die ratlosen Gesichter der deutschen Freunde, machte aber nicht den Versuch, den Humor Überlebender zu
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