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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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zurück. Wodka, mein Täubchen, hilft gegen Lampenfieber und Liebeskummer. Und unbedingt du musst wissen, wie Heiner und ich haben uns kennen gelernt. Willst du? Er wartete die Antwort nicht ab.
    Heiners Freunde waren wie Heiner. Charmant, autoritär und gewohnt, ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Sie wollten Nähe, Zuneigung, Aufmerksamkeit und Zeit und sie bekamen, was sie mit der Wucht ihrer Leidensgeschichte einforderten: Zuneigung, Nähe, Aufmerksamkeit und Zeit. Auch Heiner konnte bitten und betteln: Lena, Schatz, bleib noch ein Weilchen, auf ein Wässerchen nur, du kannst uns doch nicht alleine lassen, es gibt Schlimmeres als eine Nacht ohne Schlaf. Zwei Stunden später saßen sie noch immer am Couchtisch, auf dem nun zwei leere Wodkaflaschen standen. Die Männer fanden kein Ende und es konnte auch keines geben, weil jede Geschichte eine Vorgeschichte hatte, die man nur verstehen konnte, wenn man auch noch die Geschichte kannte, die davor geschehen war. Für Heiner war Auschwitz ein Ozean aus Geschichten, auf dem Lena in dieser Nacht trieb wie ein Schiffchen aus Papier. Stan hob das Glas: Na zdrowie. Schau, Lena, sagte Heiner, nur noch eine hübsche, kleine Gute-Nacht-Geschichte. Er kannte die Faszination seiner Stimme und die Kraft seiner Augen. Er wartete Lenas Antwort nicht ab, er gab der Geschichte eine Überschrift, die ihr das Gehen unmöglich machte. Schau Lena, Oktober ’42.
    Stell dir einen schönen Sonntag vor. Freizeit in Auschwitz. Da summen und brummen im Stammlager dreißigtausend Menschen um die Blocks, ein Geschiebe und Gebrabbel wie auf dem Jahrmarkt, und mitten in dem Gewühl sehe ich einen Mann, den ich aus Wien kannte, den Gustl, ein Freund aus dem Untergrund. Und er sieht mich, lacht, freut sich, breitet die Arme aus und ruft: Ei, Heiner, schön, dich zu sehen! Was machst du denn hier? Ich muss lachen und sage: Na Gustl, du stellst blöde Fragen – was ich hier mache? Dasselbe wie du. Ich gehe spazieren. Als er erfährt, dass ich im Arbeitskommando Straßenbau stecke, erschrickt er: Große Scheiße, da lebst du keine vierzehn Tage! Wie lange bist du schon dort? Dreizehn, sage ich und lerne, was es bedeutet, an diesem Ort Genossen zu haben. Wir treffen uns in einer Stunde, sagt der Gustl und rennt davon und … na ja … in ungefähr einer Stunde kommt er zurück und sagt: Du, ich hab eine prima Arbeit für dich, kannst du Maschine schreiben? Nein. Macht nichts, sagt der Gustl, melde dich vor dem Abendappell im Krankenbau beim Stani auf Block 21. Netter Pole, der Stani, Genosse aus Bydgoszcz, fast heilig, hat den Hungerbunker überlebt, Gruß vom Gustl aus Wien und sag, dass du tippen kannst.
    Tippen, was denn tippen?
    Todesmeldungen, sagt er, ist nicht schwer – und schon war er in der Menge verschwunden.
    So lernte Heiner von Stan das Schreiben auf einem schwarzen Klapperkasten, der ORGA hieß. Erst hingen seine Hände ratlos über den Tasten, die Augen kreisten über den Buchstaben und wenn sie gefunden hatten, was sie suchten, drückte ein Zeigefinger die Taste vorsichtig nieder, mörderisch langsam nannte Stan die ersten Versuche und brachte Heiner das System ›Häftling schlägt Nazi‹ bei. Kurzes Kreisen über der Tastatur, blitzartiges Niederfahren auf den gesuchten Buchstaben mit mindestens zwei Zeigefingern, schlaue Aufgabenverteilung: Der linke übernimmt dreiundzwanzig Nazis, der rechte zweiundzwanzig, die Daumen schlagen die Leertaste nieder. Wer sich hier halten will, sagte Stan, muss blind tippen, du tippst um dein Leben. Schon nach der ersten Schicht wussten Heiners Finger, dass sie mit der Kraft eines Rächers auf die Tasten zu schießen hatten und nach einer Woche ratterte seine Schreibmaschine, als hätte er nie etwas anderes getan, als im Akkord Todesmeldungen zu tippen. Es gibt eben Orte, an denen man schneller lernt als anderswo. Stan schenkte – versprochen, Lena – ein allerletztes Wässerchen aus, Heiner rauchte – versprochen, Lena – die letzte Zigarette.
    Vielleicht hilft das ›Wässerchen‹ gegen Liebeskummer und Lampenfieber, aber nicht gegen Geschichten von Stanislaw Piontek und Heiner Rosseck. Lena war nüchtern, als wäre der Wodka aus Wasser.
    Man hatte ihnen das schönste Zimmer gegeben. Ein Himmelbett wie für Könige, darüber ein Kronleuchter mit falschen Kerzen, weinrote Plüschsessel und eine Spiegelwand, die aus dem Raum einen Saal und aus Lena eine Zwergin mit roten Augen machte. Sie stellte sich ans Fenster und sog die kalte Nachtluft

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