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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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irgendwelche Zahlen und hörte Mieteks Stimme: Ruhig, mein Freund, keine Angst, deine Nummer kannst du später aufsagen. Die Stimme kam von weit her und sie hatte Recht. Alles war gut: Mietek hatte ihn in den Himmel geschleudert, unten lachten die Hunde und oben lachten sie Tränen über diese maßlos sinnlose Landschaft.
    Als er aufwachte, schien die Sonne auf die Bettdecke. Rechts neben ihm saß Mietek, links Lena. Mietek hielt Heiners rechte Hand, Lena seine linke. Beide trugen einen weißen Kittel. Heiner lächelte, fast schon wieder spöttisch.
    Wie heißt das Spiel?
    Bevor er weiterreden konnte, sagte Mietek: Du hast Pause, Heiner Rosseck, du hörst jetzt genau zu, verstanden? Heiner sah Lena an. Sie war bleich, ihre Augen waren klein, im Kittel sah sie aus wie eine verweinte Oberärztin.
    Das war knapp gestern Abend, sagte Mietek, das hätte das Ende sein können.
    Du hast mich in den Himmel geschleudert, warum sind wir dort nicht geblieben?
    Du wirst dich nicht davonschleichen, mein Freund. Nicht am siebzigsten Geburtstag, nicht ohne Rede, nicht ohne Liebeserklärung.
    Habe ich die Rede nicht gehalten?
    Du hast angefangen, dann hast du dir eine Zigarette angesteckt, auf den Tisch gestarrt, gekeucht und gehustet und nach Luft geschnappt, dann bist du zusammengefallen wie ein schlaffer Ballon. Das war ein mittelschwerer Asthma-Anfall und nicht der erste, richtig?
    Heiner nickte.
    Mietek begann einen strengen Vortrag über die Atmung, die Lunge und ihre Funktion. Er sagte: Sie taugt zu mehr als zu Lungenzügen. Er beschrieb sie als einen Baum, nannte die Luftröhre den Stamm und die Bronchien Äste und Zweige, die verdorren, wenn sie nicht mit Sauerstoff versorgt werden. Er sprach über pfeifenden Atem, eine eingeschnürte Brust, Schmerzen, Luftmangel, Erstickungsanfälle und Ohnmachten, riet zu einem Leben in Seeluft.
    Aber mein Herz ist stark, sagte Heiner.
    Wie viele Infarkte?
    Drei.
    Vier, sagte Lena.
    Wie lange hustet er schon?
    So lange ich ihn kenne.
    Husten ist eine Botschaft des Körpers, sagte Mietek, eine Warnung. Wie viele Zigaretten am Tag?
    Zwanzig, sagte Heiner, manchmal weniger.
    Vierzig, sagte Lena, manchmal mehr.
    An irgendetwas muss der Mensch sterben, sagte Heiner.
    Du also an Asthma?
    Wenn mir das zugedacht ist.
    Zugedacht! Von wem? Ersticken ist kein schöner Tod, mein Freund.
    Wie möchtest du denn sterben, fragte Heiner.
    Als hätte er auf die Frage gewartet, ließ Mietek den Arzt hinter sich, war Freund und Kamerad.
    Wie ich sterben möchte? Das weiß ich genau. Als Ironman auf Hawaii. Auf dem Podest. Nachdem ich dreikommaachtsechs Kilometer geschwommen, hundertachtzig Kilometer geradelt und zweiundvierzigkommaeinsneunsechs Kilometer gelaufen bin. Und das alles unter acht Stunden. Umfallen auf dem Siegerpult mit der Goldmedaille in der Hand. Und du? Bleibst du beim Asthma-Anfall?
    Ich möchte in Lenas Armen sterben. Wach, ohne Schmerzen. Ich stelle mir einen langen Abschied vor, bei dem wir noch einmal an alles denken, was gut war. Dann soll sie mich ansehen, damit ich ihren Blick mitnehmen kann. Und weißt du, wie Stan sterben möchte? Auf der Bühne, als König …
    Lena sprang auf. Ihre Stimme überschlug sich. Ihr Spinner mit euren delikaten Todesarten! Dein Freund hat dir zum siebzigsten Geburtstag das Leben geschenkt, könnte man darüber reden? Ist das kein Thema? Sie zog Mietek aus dem Krankenzimmer, warf die Tür hinter sich zu und schnitt Heiners Sätze mitten durch. Auf dem Flur bekam sie einen Weinkrampf.
    Mietek, wie kann man vom Tod träumen, ohne an die zu denken, die man verlässt?
    Nimm uns nicht ernst.
    Was hat er gesagt, als wir gingen?
    Dass ich ihm schon oft das Leben gerettet habe, dass das nichts Besonderes sei.
    Nichts Besonderes? Das hat er gesagt!?
    Als Lenas Weinen in einen hysterischen Lachanfall überging, drückte Mietek sie mit seiner ganzen Ironmankraft an sich und hielt sie fest. Er wickelte sich ihr Haar um die Hand wie einen Verband. Sie hörte sein Herz. Heiner und Mietek, was für ein Gespann. Vor fünfzig Jahren waren sie gestreifte Gestalten, jung, überwach und übermüde, einer sah aus wie der andere, klapperdürr und halb verhungert, einer dem anderen das Leben rettend, jede Stunde, jeden Tag, nachts aneinander gedrückt, sich wärmend und hoffend, am nächsten Morgen die Kraft zu haben, aufzustehen. Und wenn sie tausend und eine Geschichte erzählten von lachenden Hunden und sprechenden Bäumen – was wirklich zwischen ihnen war, würde Lena

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