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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Zwei, die den Hungerbunker überlebt haben! Stan und Lüdenscheid. Geschichte muss neu geschrieben werden. Gibt doch Wunder in Auschwitz.
    Stan Piontek steckte das Mikrophon in die Aktentasche. Die Art, wie er sagte: ›Alles klar‹ war keine Aufforderung, Fragen zu stellen. Bevor die Stille im Saal noch schwerer wurde, stand Heiner auf, stellte sich als Häftling Nr. 63.387 vor und sagte: Stan, mein Freund, erzähl uns, was du nach der Befreiung getan hast.
    Stanislaw Piontek sah in den Saal, als müsse er über die Bitte nachdenken, dabei wusste er genau, was er preisgeben wollte. Er setzte sich auf den Stuhl, schnippte die Schlösser der Aktentasche auf, nahm das Mikrophon noch einmal heraus und sagte, als sei ihm dieser Satz gerade eingefallen: Herrschaften, möchte Sie bekannt machen mit fünf Mal Stan.
    Der erste, den er dem Publikum vorstellte, war 1945 zwanzig Jahre alt. Der irrte tagelang durch seine Heimatstadt Bydgoszcz, bevor er sich traute, an der Tür der Eltern zu klingeln. Er erwartete kein Leben hinter der Tür. Aber dann hörte er Schritte, einen Schlüssel im Schloss und war erschüttert von dem Gesicht der Frau, die ihm öffnete. Treblinka. Bergen-Belsen. Dachau. Ravensbrück. Seine Mutter hatte vier Konzentrationslager überlebt. Sie war ein Skelett – wie der Junge, den sie nicht erkannte und vor dem sie erschrak.
    Der zweite Stan war der Schüler Stanislaw, der alle Lektionen, die man über das Leben wissen musste, gelernt hatte und sich nun mit alten Büchern auf das Abitur vorbereitete. Erdkunde. Geschichte. Geometrie. Literatur. Musik. Sport.
    Der dritte Stan, der Student, wandte sich mit zweiundzwanzig Jahren angeekelt von seinem Lieblingsfach, der Philosophie, ab, weil er die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gut und Böse, Recht und Unrecht pervers fand.
    Der vierte Stan war zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt, ein gieriger Allesfresser, der nicht genug bekommen konnte, der fünf Jahre lang soff und qualmte und Frauen verschlang und nur noch kotzen wollte.
    Der fünfte hatte vom Leben genug. Der sehnte sich nach einem Strick oder Revolver, wollte sich aber vor dem Ende noch einmal gründlich satt essen und betrinken. Weil er dafür Geld brauchte, bewarb er sich als Statist am Theater, dort suchten sie Häftlingsdarsteller, das traute er sich zu. Nach der ersten Probe wusste er, dass die Bühne das Paradies war, nach dem er gesucht hatte. Heute Engel, morgen Teufel, mal König, mal Bettelmann. Jeden Tag ein anderer und nur wenn er wirklich wollte, ein Auftritt mit eigenem Text.
    Stanislaw Piontek stand auf. Er schob das Mikrophon in die Aktentasche und verschloss sie. Er lehnte den Stuhl gegen den Tisch. Er verbeugte sich.
    Meine Herrschaften, Danke sehr für Aufmerksamkeit.

Eine Stadt aus Holz ist ein lebendiges Wesen, das ein- und ausatmen kann, ächzen, stöhnen und seufzen. Wenn der Nachtwind durch das Tal pfeift, ziehen sich die Häuser frierend zusammen und wenn am Morgen die Sonne über die Berge steigt, räkeln, strecken und entspannen sie sich. In dieser Nacht fror Zakopane.
    Schweigsam legten sie den kurzen Weg zum Hotel zurück, ein Mann und eine Frau in hirschbraunen Lederjacken und ein Herr mit Mantel, Hut und Aktentasche. Nach dem Vortrag hatte sich Stanislaw Piontek in einen sanften Mann verwandelt, der seinen Panzer in der Requisite gelassen hatte. Er war aufgedreht wie nach jedem Stück, in dem er die Hauptrolle spielte. Heiner wusste, dass sein Freund das ›Stück‹ nach einer kurzen Pause noch einmal genau so aufführen konnte. Mit denselben Worten, denselben kontrollierten Gefühlen, der effektvollen Wanderung über die Bühne, den fünf angedeuteten Stans.
    Ein ›Wässerchen‹ sollte den Abend beenden. Trink, Lena, sagte Heiner, zeig unserem Freund, was du in Polen gelernt hast. Lena nippte am Glas. Das ›Wässerchen‹ war nicht süß wie aus Melasse, nicht schwer wie aus Kartoffeln, nicht ganz so weich und sanft wie aus Trauben – es war ein guter, runder Weizenwodka, zu dem Stan und Heiner Kaffee tranken. Lena hatte genug für den Abend, sie wollte keine Geschichten mehr hören, sie wollte schlafen. Nach dem ersten Glas stand sie auf, wünschte den Männern eine gute Nacht, aber dann hielt Stan sie mit verführerischer Schauspielerstimme fest: So willst du treulos von mir scheiden mit deinen holden Phantasien, mit deinen Schmerzen, deinen Freuden, mit allen unerbittlich flieh’n? Er küsste ihr die Hand und drückte sie in den Sessel

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