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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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erklären. Er gibt ein Lachen, in das man ohne Erfahrung nicht einstimmen kann. Mietek bettete die Liebeserklärung an den Freund in zwei Lagerlieder. Liebe Lola, sang er und: Ein Lied zwo drei – ›Bubikopf‹: Tadek erzählte vom betenden Busch in Birkenau, der ihn dazu brachte, ›dort‹ zu bleiben und Stan holte das Mikrophon aus der verkratzten Aktentasche und trug Ringelnatz’ ›Großen Vogel‹ vor. Er hatte darin die Zeile gefunden, die Leszek als kleiner Untergrundbote in einem fremden Treppenhaus einer fremden Frau hätte aufsagen sollen, ohne das Gedicht zu kennen. Die Nachtigall ward eingefangen/ sang nimmer zwischen Käfigstangen/ Man drohte, kitzelte und lockte/ Gall sang nicht/ Bis man die Verstockte in tiefsten Keller ohne Licht/ Einsperrte/ Unbelauscht, allein dort, ohne Angst vor Widerhall, sang sie/ Nicht/ Starb ganz klein als Nachtigall.
    An diesem Abend machte Lena eine Entdeckung, die sie irritierte. Die Geschichten, die Heiners Freunde erzählten, begannen zu zerfransen, waren dabei, sich loszureißen von den Menschen, zu denen sie gehörten, vermischten und ergänzten sich. Eines Tages würde Tante Zofia zur Geschichte von Stan gehören, der Zofia gar nicht kannte, aber überzeugt sein würde, dabei gewesen zu sein, als sie geschlagen wurde. Eines Tages würde Heiner vom Hungerbunker erzählen, als sei er dort gewesen, und Leszek vom sprechenden Baum, als habe er statt Mietek auf dem knackenden Ast gesessen und seine Nummer in den Himmel geschrieen. War das Diebstahl? Oder gehörten alle Geschichten allen, damit keine verloren geht? Immer seltener sagten sie ›Auschwitz‹. Sie nannten den Ort, an dem sie Freunde wurden, ›dort‹.
    Lena wollte eine humorvolle Bilanz ihrer Ehe mit einem Mann ziehen, der in drei Welten lebte, aber während sie noch überlegte, wann der beste Zeitpunkt wäre, schlug Heiner mit dem Dessertlöffel an sein Glas und stand auf. Ich will mich nicht nur für die Feier im Schloss bedanken, sagte er, ich will uns daran erinnern, dass wir vor Lachen gestorben wären, wenn ich damals dort gesagt hätte, ich werde euch zu meinem siebzigsten Geburtstag in Salomons Schloss einladen. Ich kann das Gelächter hören: Salomon soll ein Schloss haben? Wo? Ein Luftschloss im Himmel? Aber ein Fest in Wien mit lebendigen Freunden, ihr hättet mich für verrückt erklärt. Sie klatschten, riefen RU und lachten. Salomon hat ein Schloss im Himmel und ein Schloss auf der Erde! Heiner trank einen Schluck Wasser, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Er hustete.
    Heiner, ist dir nicht gut?
    Lena sah, wie sich Mietek erhob. Er war Arzt, die Pause war ihm zu lang.
    Ich möchte, sagte Heiner und das klang wieder kräftig, nicht lange reden, in erster Linie möchte ich nur – er lächelte bei dem Wort ›nur‹ und sah Lena an, nur im Sinne von einzig und allein, dieser Frau meine Liebe erklären. Sie war mein Engel, als ich vor dreißig Jahren im Gerichtsflur zu Boden ging. Lena sprang auf.
    Heiner!
    Er keuchte, er rang nach Luft, atmete stoßweise ein, aber kaum noch aus. Mietek kommandierte: Fenster auf! Keine Panik! Niemand raucht! Er setzte den Freund in der Haltung eines Kutschers, mit vorgebeugtem Oberkörper, auf den Stuhl. Salomon rief den Notarzt.
    Mietek, schrie Lena, was ist mit ihm?
    Klassischer Asthma-Anfall, hat er das öfter?
    Noch nie so schlimm.
    Seht ihr die Hunde, flüsterte Heiner, sie lachen.
    Ja, sagte Mietek, das ist nichts Besonderes, die lachen immer.
    Heiner fasste sich an die Kehle.
    Er starrte durch das offene Fenster in die Nacht. Der Baum dort – er lief dem Baum entgegen, so schnell er konnte, er hörte die Hunde hinter sich glucksen, sie lachten ihn aus, sie würden ihn kriegen, sie mussten sich nicht beeilen, es war ein Spiel, ihr Spiel, viel schöner als Stöckchen jagen und zum Herrchen bringen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Dass er diesen blöden Satz tatsächlich gedacht hatte, daran konnte er sich später erinnern. Am Lagertor stand ein Hund mit Stiefeln, der winkte ihn durch, die Meute hielt Abstand, sie zögerte den Höhepunkt des Spiels hinaus, wer wollte ihnen das verdenken. Je schneller er rannte, desto weiter war der Baum entfernt als fliehe auch der vor den Hunden. Oder vor ihm? War der Baum besetzt, oder wollte er niemanden mehr tragen? Er blieb stehen, er gab auf. Wozu kämpfen? Im selben Augenblick schleuderte ihn Mieteks Hand mit enormer Kraft in die Baumkrone. Er wollte seine Nummer rufen und hatte sie vergessen, rief

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