Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
dies bedeuten. Wir besitzen keine Identität. Wir haben gelebt, bis wir plötzlich sterben mussten, und jetzt erinnerst nur du dich noch an uns – Frank Parrish. Nur du.
Er sah flackernde Bilder vor sich – gebrochene Kinder, gefolterte Kinder, missbrauchte Kinder.
Parrish konnte nicht mehr einschlafen. Vielleicht döste er dann und wann noch für ein paar Minuten, doch als er schließlich unter der Dusche stand, konnte er sich nur erinnern, wie er mit den Laken und dem Kissen gerungen und vergeblich versucht hatte, noch ein wenig Ruhe zu finden.
Sämtliche Gedanken an ein Frühstück, die er am Abend zuvor gehegt hatte, waren nun vergessen. Er machte Kaffee, sehnte sich nach Zigaretten und überlegte kurz, Radick anzurufen, sich mit ihm zu treffen und sämtliche Ideen zu diskutieren, die ihm zu dem Fall durch den Kopf gingen. Falls sich die Befragungen am Montag als ebenso unproduktiv erweisen sollten wie die vom Tag zuvor, würden sie sich ziemlich schnell um einen neuen Ansatz für ihre Ermittlungen kümmern müssen. Einen Moment erwog er, bei Clare vorbeizuschauen. Um zu sehen, ob Robert zu Hause war, ob er heute irgendwas vorhatte. Parrish konnte sich kaum erinnern, wann er seinen Sohn zuletzt gesehen hatte. Das war kein gutes Zeichen. Er musste etwas ändern.
Doch von alldem tat Frank Parrish nichts. Er verließ einfach seine Wohnung und ging los, zuerst nicht in eine bestimmte Richtung, doch als er an der Kreuzung DeKalb Avenue und Washington Avenue die Straße überquerte, verspürte er einen unwiderstehlichen Drang, noch einmal den Fundort von Kellys Leiche aufzusuchen. Er nahm den längeren Weg um das Brooklyn Hospital herum, diesmal ohne jeden Gedanken, wie er Caitlin davon überzeugen sollte, hier zu arbeiten. Seine Konzentration galt Kelly und dem simplen Umstand, dass jemand sie erwürgt und in einem Pappkarton abgestellt hatte.
In der Gasse erinnerte nichts daran, dass etwas Derartiges überhaupt geschehen war. Es gab keine Reste vom Absperrband an den Griffen der Müllcontainer; nichts, was an die Dramatik dessen erinnerte, was vor gerade einmal fünf Tagen passiert war. Bei ihren Ermittlungen gingen sie davon aus, dass Kelly in die Kiste gestopft und hier abgestellt worden war. Das konnte nicht mit einem PKW erledigt worden sein. Schon eher mit einem Tieflader, einem Pick-up vielleicht – auf jeden Fall mit etwas Größerem. Und der Fahrer musste Wert darauf gelegt haben, keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein Lieferwagen – Telefongesellschaften, Mechaniker, etwas in der Art? Oder doch einfach ein SUV mit Heckklappe oder einer breiten Hintertür.
Besaß jemand bei South Two ein solches Fahrzeug?
Parrish dachte über die Männer nach, mit denen sie gesprochen hatten. Lavelle, Kinnear, King, McKee … und die anderen, deren Namen und Gesichter in seiner Erinnerung verschwammen. Er versuchte, sich jeden Einzelnen dabei vorzustellen, wie er einen solchen Mord beging. Hatten Radick und er bisher auch nur das Geringste in der Hand? Und was diesen Lester Young anging … verdammt, im Augenblick sah es so aus, als würden sie Lester Young nicht einmal finden. Ein Gerücht aus dem Munde Lavelles, McKee betreffend; die Erkenntnis, dass Andrew King zu körperlicher Gewalt imstande war; das war alles. Oberflächlich betrachtet wirkte McKee wie der Fürsorglichste und Engagierteste des ganzen Haufens. Vor South Two hatte er im Südbezirk des Jugendamts gearbeitet. Er hatte Jennifer Baumann gekannt, schien aber ansonsten keine direkte Verbindung zu irgendeinem der anderen Mädchen gehabt zu haben. Andererseits wäre wohl niemand in einer solchen Position dumm genug, seine eigenen Schutzbefohlenen zu betäuben, zu vergewaltigen und zu ermorden. Letztlich lief alles auf zwei Fragen hinaus. Erstens: War der Täter tatsächlich bei South Two angestellt? Und zweitens: Ging es hier um eine persönliche Beteiligung? War der South-Two-Angestellte der Mörder, oder leitete er Informationen über mögliche Opfer an jemanden weiter, der selbst nicht bei der Stadt beschäftigt war? Daraus ergab sich eine weitere Möglichkeit. Falls tatsächlich Details an einen Täter von außerhalb weitergegeben wurden, konnte der Insider dann auch eine Frau sein?
Diese Möglichkeit war derart grauenhaft, dass Parrish nicht einmal darüber nachdenken wollte; nicht, bis er sämtliche Möglichkeiten bei den männlichen Angestellten ausgeschöpft hatte. Bis Montag jedenfalls stand er mit leeren Händen
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