Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
worden? Rohypnol hatte eine Rolle gespielt, mindestens bei einigen von ihnen, wahrscheinlich sogar bei allen. Sie waren entführt – oder irgendwie geködert – und dann betäubt worden. Ihre Haare waren geschnitten und die Nägel lackiert worden. Sie hatten Geschlechtsverkehr gehabt, wahrscheinlich ohne etwas davon zu merken, und waren dann erdrosselt worden. Für Snuff-Filme? Steckte das dahinter? Er rief sich die Unterhaltungen mit Swede und Larry Temple in Erinnerung. Doch Leute wie sie waren für so etwas eine Nummer zu klein. Ausgefallene Pornos, ja, auch mit Minderjährigen, aber Serienmorde für Snuff-Filme? Das lag außerhalb ihres Repertoires. Er ließ länger zurückliegende Begegnungen Revue passieren; Mistkerle, deren Akten in früheren Jahren über seinen Schreibtisch gewandert waren. Hatte er jemals einen Snuff-Fall bearbeitet? Hatte er im Revier je von einem solchen Fall gehört? Er konnte sich jedenfalls an keinen erinnern.
Dies hier war etwas Neues, etwas außerhalb des üblichen Rahmens.
Parrish stand auf und trat an das schmale Fenster mit Blick auf die Straße. Er hätte nicht klar sagen können, wie er sich fühlte. Wie Treibgut? Ein Schiff ohne Anker? Auf jeden Fall verstört durch den offensichtlichen Mangel an irgendetwas Substanziellem. Ja, er ging von einer Verbindung zwischen den Morden aus, und nicht ohne Grund. Ja, er arbeitete an abgelegten Fällen, die von den ursprünglich ermittelnden Beamten längst aufgegeben worden waren. Ja, er hatte auch ein Verbrechen einbezogen, das außerhalb der Zuständigkeit des Reviers lag und doch den Stempel eines gemeinsamen Täters trug.
Alles beruhte auf Intuition, Bauchgefühl, etwas so Banalem und Fundamentalem, dass es seiner Gewissheit ein Stück Halt verlieh. Parrish war der Überzeugung, dass sämtliche Polizisten – wie Blinde, die über ein außerordentlich scharfes Gehör verfügen – eine Art sechsten Sinn kultiviert hatten. Sie opferten persönliche Stabilität für Intuition; tauschten die Behaglichkeit des Ehelebens gegen ein untrügliches Gespür dafür, ob jemand log; vernachlässigten ihre Fähigkeiten als Eltern zugunsten der unbeugsamen Konsequenz, die nötig war, wenn man jemanden drei Monate lang beobachten musste, ehe man ihn bei einem falschen Zug überraschte. Es ging um Widersprüche, stets um Widersprüche, und auch wenn die erworbenen Fähigkeiten nutzlos waren, sobald der Arbeitstag beendet war, so wurden sie doch zu einem Teil von einem selbst wie die Erinnerungen an bessere Zeiten.
Das war es, und nur das, woraus Parrish die Entschlossenheit zog weiterzusuchen, weiter Fragen zu stellen und alles zu tun, was in seiner Macht stand, um den Mörder der Mädchen in einen kleinen und stickigen Verhörraum im Kellergeschoss des 126sten Reviers zu bringen. Oder ihn tot zu sehen.
50
Montag, 15. September 2008
»Ich bin beruhigt, dass Sie gekommen sind.«
»Inwiefern beruhigt?«
»Ihretwegen, Frank … Sie haben mehr Durchhaltevermögen, als ich Ihnen zugetraut hätte.«
»Ich dachte, Sie fallen ins Delirium tremens, wenn ich nicht auftauche.«
»Also reden wir wieder?«
»Wir haben niemals nicht geredet. Sie waren es, die gesagt hat, Sie wollten nicht mehr, dass ich komme. Sie waren es, die mich aufgeben wollte.«
»Dafür muss ich mich entschuldigen, Frank. Es war unprofessionell von mir, so etwas zu sagen. Manchmal beschäftigt man sich mit jemandem, und es ist plötzlich viel mehr als nur ein Job. Gerade Sie verstehen sicher, was ich meine, oder.«
»Klar.«
»Also fangen wir neu an. Ich bin überzeugt davon, dass Sie ein Interesse daran haben, mit unserer Arbeit voranzukommen, und ich denke, der einzige Weg dorthin besteht darin, dass wir dafür sorgen , dass sie vorankommt.«
»Allerdings begreife ich immer noch nicht, was wir hier eigentlich erreichen wollen.«
»Aber Sie begreifen inzwischen genug, um zu spüren, dass es Ihnen helfen könnte.«
»Vielleicht. Ja, sicher … wer weiß. Okay!«
»Nun, wir haben über Ihre Tochter gesprochen. Wir haben ein wenig über den Fall geredet, an dem Sie zurzeit arbeiten. Am meisten haben wir uns mit Ihrem Vater beschäftigt, wobei ich glaube, dass wir in diesem Punkt zu keinem Ergebnis gekommen sind.«
»Was meinen Sie damit – Ergebnis?«
»Ihre Schlussfolgerungen, Frank. Ob Sie das Gefühl haben, zu einem Abschluss in der Frage gekommen zu sein, wer er war und in welcher Weise er auf Ihr Leben Einfluss genommen hat.«
»Abschluss? Das ist ein
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